Das Buch der Illusionen
Krankenlager: ein Glas Wasser, den Rücken eines Buchs, ein Thermometer, den Knauf an der Nachttischschublade. Aber am nächsten Morgen, erzählt Martin, war das Fieber noch schlimmer. Ich sagte ihr, ich werde mir den Tag freinehmen, ob ihr das gefalle oder nicht. Stundenlang saß ich bei ihr, und im Lauf des Nachmittags schien es sich mit ihr zum Besseren zu wenden.
Die Kamera zieht zu einer Totalen auf und zeigt Claire aufrecht im Bett: Sie wirkt wieder so munter wie eh und je. Mit spöttischem Ernst in der Stimme liest sie Martin aus einem Text von Kant vor: ... dass die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen... und dass, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden.
Der Alltag scheint zurückzukehren. Claire ist auf dem Weg der Besserung, und am nächsten Tag wendet sich Martin wieder seiner Geschichte zu. Er arbeitet zwei, drei Stunden durch, dann macht er eine Pause, um bei Claire nach dem Rechten zu sehen. Als er ihr Zimmer betritt, liegt sie schlafend unter einem Berg von Steppdecken. Es ist kalt in dem Zimmer - so kalt, dass Martin den eigenen Atem sieht, wenn er ausatmet. Hector hat ihn wegen des Heizkessels gewarnt, aber Martin hat offenbar vergessen, sich darum zu kümmern. Nach diesem Anruf sind zu viele verrückte Dinge passiert, und auf den Namen Fortunato kann er sich nicht mehr besinnen.
Es gibt aber einen Kamin in dem Zimmer, und etwas Brennholz ist ebenfalls vorhanden. So leise wie möglich, um Claire nicht zu wecken, schickt Martin sich an, Feuer zu machen. Als die Flammen auflodern, schiebt er die Scheite mit einem Schürhaken zusammen, wobei ihm einer unter den anderen wegrutscht. Das Geräusch dringt in Claires Schlaf. Sie bewegt sich, wälzt sich mit leisem Stöhnen unter den Decken und schlägt die Augen auf. Martin, noch immer vor dem Kamin, fährt herum. Ich wollte dich nicht wecken, sagt er. Entschuldige.
Claire lächelt. Sie wirkt schwach, physisch erschöpft, kaum bei Bewusstsein. Hallo, Martin, flüstert sie. Wie geht's meinem schönen Mann?
Martin tritt ans Bett, setzt sich und legt Claire eine Hand auf die Stirn. Du glühst ja richtig, sagt er.
Mir geht's gut, antwortet sie. Alles in Ordnung.
Das ist der dritte Tag, Claire. Ich finde, wir sollten einen Arzt holen.
Nicht nötig. Gib mir einfach noch ein paar Aspirin. In einer halben Stunde bin ich wieder wie neu.
Martin schüttelt drei Aspirin aus der Flasche und gibt sie ihr mit einem Glas Wasser. Als Claire die Tabletten schluckt, sagt Martin: Das gefällt mir nicht. Ich finde wirklich, du solltest dich von einem Arzt untersuchen lassen.
Claire gibt ihm das leere Glas, und er stellt es auf den Tisch zurück. Erzähl mir von deiner Geschichte, sagt sie. Dann geht's mir gleich besser.
Du solltest dich ausruhen.
Bitte, Martin. Nur ein bisschen.
Da er sie nicht enttäuschen, ihre Kräfte aber auch nicht überstrapazieren will, beschränkt Martin sich auf eine Zusammenfassung in wenigen Sätzen. Es ist dunkel, sagt er. Nordstrum hat das Haus verlassen. Anna ist auf dem Weg, aber das weiß er nicht. Wenn sie nicht bald kommt, läuft er in die Falle.
Schafft sie's?
Das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass sie zu ihm kommt.
Sie hat sich doch in ihn verliebt, oder?
Auf ihre Weise, ja. Sie riskiert ihr Leben für ihn. Das ist auch eine Form von Liebe, stimmt's?
Claire antwortet nicht. Martins Frage hat sie überwältigt, sie bringt vor Rührung kein Wort heraus. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, ihre Lippen beben, ihre Miene strahlt wie in Verzückung. Es ist, als sei sie zu irgendeiner Erkenntnis über sich selbst gelangt, als habe ihr ganzer Körper plötzlich zu leuchten angefangen. Wie lange brauchst du noch?, fragt sie.
Zwei oder drei Seiten, sagt Martin. Ich bin kurz vor dem Ende.
Dann geh jetzt und schreib.
Das kann warten. Ich mach's morgen.
Nein, Martin, mach's jetzt. Mach's jetzt gleich.
Die Kamera verweilt ein paar Sekunden auf Claires Gesicht - und auf einmal, wie angetrieben von ihrer eindringlichen Bitte, sitzt Martin wieder am Schreibtisch und tippt. Dies leitet eine Reihe von Gegenschnitten zwischen den beiden Darstellern ein. Das Bild wechselt von Martin zu Claire, von Claire zu Martin, und nachdem es zehnmal so hin und her gegangen ist, begreifen wir endlich, verstehen wir endlich,
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