Das Buch der Illusionen
schwarz. Der Film ist zu Ende.
8
Noch am selben Tag wurde Das Innenleben des Martin Frost vernichtet. Ich sollte vielleicht froh darüber sein, dass ich diesen Film sehen durfte, dass ich der letzten Vorführung eines Films auf der Blue Stone Ranch beiwohnen konnte, aber etwas in mir wünscht, Alma hätte den Projektor an diesem Morgen nie angestellt, und ich wäre niemals mit diesem eleganten, eindringlichen kleinen Meisterwerk konfrontiert worden. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn mir der Film nicht gefallen hätte, wenn ich ihn als schlechtes oder dilettantisches Erzählkino hätte abtun können, aber er war nun einmal eindeutig nicht schlecht, eindeutig nicht dilettantisch, und als mir aufging, was hier zerstört werden sollte, erkannte ich, dass ich über zweitausend Meilen weit gereist war, um an einem Verbrechen teilzunehmen. Als Das Innenleben an diesem Julinachmittag zusammen mit Hectors anderen Werken in Flammen aufging, empfand ich das als Tragödie, als himmelschreienden Skandal, es kam mir vor wie das Ende der Welt.
Die anderen Filme habe ich nicht gesehen. Dazu blieb keine Zeit mehr, und wenn man bedenkt, dass ich Martin Frost nur einmal sehen konnte, hat Alma gut daran getan, mir Notizbuch und Kugelschreiber zu geben. Daran ist nichts Widersprüchliches. Ich mag mir wünschen, dass ich den Film nie gesehen hätte, aber ich habe ihn nun einmal gesehen, und nun, da die Worte und Bilder unmerklich in mich eingegangen waren, war ich dankbar für die Möglichkeit, sie festzuhalten. Die Notizen dieses Vormittags haben mir geholfen, Einzelheiten, die mir ansonsten wieder entfallen wären, zu bewahren und den Film nach so vielen Jahren im Kopf zu rekonstruieren. Ich habe beim Schreiben -beim hastigen Kritzeln in der telegrafischen Kurzschrift, die ich mir als Student angewöhnt hatte - kaum einmal aufs Papier geblickt, und wenn auch vieles nahezu unleserlich war, gelang es mir schließlich doch, ungefähr neunzig, fünfundneunzig Prozent davon zu entziffern. Das hat mich mehrere Wochen sorgfältigster Anstrengungen gekostet, aber als endlich eine saubere Abschrift der Dialoge vor mir lag und ich die Geschichte in durchnummerierte Szenen geteilt hatte, wurde es mir möglich, wieder mit dem Film in Berührung zu kommen. Um so etwas zu tun, muss ich in eine Art Trance verfallen (und das heißt, es gelingt mir nicht immer), aber wenn ich mich stark genug konzentriere und mich in die richtige Stimmung versetze, können die Worte mir tatsächlich die Bilder in den Kopf projizieren, und dann ist es fast so, als sähe ich Das Innenleben des Martin Frost noch einmal - zumindest in kurzen Ausschnitten, eingeschlossen im Vorführraum meines Schädels. Als ich voriges Jahr mit der Idee für dieses Buch zu spielen begann, bin ich für einige Sitzungen zu einem Hypnotiseur gegangen. Beim ersten Mal kam nicht viel dabei heraus, aber die nächsten drei Besuche brachten erstaunliche Ergebnisse. Die Kassettenaufnahmen dieser Sitzungen halfen mir, gewisse Lücken auszufüllen und mir einiges ins Gedächtnis zurückzurufen, das bereits zu verschwinden drohte. Wie auch immer, es scheint, dass die Philosophen recht haben. Nichts, was uns widerfährt, geht jemals verloren.
Die Vorführung endete kurz nach zwölf. Alma und ich hatten schon wieder Hunger, wir brauchten eine kurze Pause, und statt uns direkt in den nächsten Film zu stürzen, gingen wir mit unserem Essenskorb auf den Flur. Ein seltsamer Ort für ein Picknick - wir hockten auf dem staubigen Linoleumboden, machten uns unter einer Reihe flackernder Neonröhren über unsere Käsebrote her -, aber wir wollten keine Zeit mit der Suche nach einem schöneren Ort irgendwo im Freien verlieren. Wir unterhielten uns über Almas Mutter, über Hectors andere Filme, über die eigenartig überzeugende Mischung aus Schrulligkeit und Ernst in dem Film, den wir gerade gesehen hatten. Filme könnten uns dazu bringen, allen möglichen Unsinn zu glauben, sagte ich, aber diesmal sei ich wirklich darauf reingefallen. Als Claire in der Schlussszene wieder zum Leben erwacht sei, hätte ich eine Gänsehaut bekommen, mir sei gewesen, als hätte ich einem echten Wunder beigewohnt. Martin habe seine Geschichte verbrannt, um Claire von den Toten zu erlösen, zugleich aber sei er auch Hector gewesen, der Brigid O'Fallon erlöst habe, und Hector, der seine Filme verbrannt habe, und je mehr Dinge in diesem Film eine solche Doppelnatur angenommen hätten, desto tiefer sei ich darin eingedrungen.
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