Das Buch der Illusionen
Ausstrahlung. Dann löst sich das Bild auf, bricht vor einem lückenlos schwarzen Hintergrund auseinander; Claires Lachen ist noch etwas länger zu hören, bricht dann aber ebenfalls auseinander -verliert sich in Echos, zerstückelten Atemzügen und immer entfernter klingendem Widerhall.
Es folgt eine längere Stille, und in den nächsten zwanzig Sekunden beherrscht ein nächtliches Bild die Leinwand: der Mond am Himmel. Wolken treiben vorüber, der Wind raschelt in den Bäumen darunter, im Wesentlichen ist aber nichts als der Mond zu sehen. Es ist ein gewollt krasser Wechsel, der uns den komischen Klamauk der Szene davor sehr schnell vergessen lässt. In dieser Nacht, sagt Martin, habe ich einen der wichtigsten Entschlüsse meines Lebens gefasst.
Ich habe beschlossen, keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Claire hat mich gebeten, ihr blindlings zu vertrauen, mich einfach fallen zu lassen, und statt sie weiter zu bedrängen, beschloss ich, die Augen zu schließen und den Sprung zu wagen. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete, aber damit war nicht gesagt, dass es das Risiko nicht wert war. Und so fiel ich, und fiel... und als ich nach einer Woche schon das Gefühl hatte, es könnte nichts mehr schiefgehen, brach Claire zu einem Spaziergang auf .
Martin sitzt im ersten Stock an seinem Schreibtisch. Er dreht sich von der Schreibmaschine weg und blickt aus dem Fenster, und ein Gegenschnitt zeigt uns aus seinem Blickwinkel, also von oben, in einer langen Einstellung, wie Claire allein im Garten umhergeht. Die Kaltfront ist offenbar angekommen. Claire trägt Mantel und Schal, sie hat die Hände in den Taschen, leichter Schneefall hat den Boden bestäubt. Als die Kamera auf Martin zurückschneidet, sieht er immer noch aus dem Fenster - er kann den Blick einfach nicht von ihr losreißen. Wiederum Gegenschnitt, und wieder sehen wir Claire allein im Garten. Sie macht ein paar Schritte, dann bricht sie völlig unvermittelt zusammen. Der Sturz ist grauenhaft effektvoll. Kein benommenes Schwanken, kein allmähliches Nachgeben der Knie. Claire fällt einfach zwischen einem Schritt und dem nächsten in totale Bewusstlosigkeit, und so plötzlich, so gnadenlos, wie ihre Kräfte sie verlassen, könnte man meinen, sie sei tot.
Die Kamera fährt vom Fenster aus auf Claire zu und bringt ihren leblosen Körper in den Vordergrund. Schon sehen wir Martin zu ihr hinlaufen, atemlos, in Panik. Er sinkt auf die Knie, wiegt ihren Kopf in seinen Händen und forscht nach irgendeinem Lebenszeichen. Wir wissen nicht mehr, was wir erwarten sollen. Die Geschichte hat sich auf eine andere Ebene verlagert: Während wir uns eben noch kaputtgelacht haben, sehen wir uns jetzt einer zermürbenden, melodramatischen Szene gegenüber. Endlich schlägt Claire die Augen auf, aber erst nach so langer Zeit, dass wir erkennen: Das ist keine Erholung, sondern bloß ein Aufschub, ein böses Omen. Sie blickt zu Martin auf und lächelt. Das Lächeln ist irgendwie vergeistigt, nach innen gerichtet, es ist das Lächeln eines Menschen, der nicht mehr an die Zukunft glaubt. Martin küsst sie, dann bückt er sich, hebt Claire vom Boden auf und trägt sie zum Haus. Sie schien nicht ernstlich krank, sagt er. Nur ein kleiner Ohnmachtsanfall, dachten wir. Aber am nächsten Morgen erwachte Claire mit hohem Fieber.
Schnitt. Wir sehen Claire im Bett. Martin umsorgt sie wie eine Krankenschwester, misst ihre Temperatur, gibt ihr Aspirin, tupft ihr mit einem feuchten Handtuch die Stirn, flößt ihr mit einem Löffel Brühe ein. Sie hat nicht geklagt, fährt er fort. Ihre Haut war fiebrig heiß, aber sie schien guten Mutes. Nach einer Weile scheuchte sie mich aus dem Zimmer. Schreib deine Geschichte weiter, sagte sie. Ich möchte lieber bei dir bleiben, erklärte ich, aber Claire lachte nur, zog einen komischen Schmollmund und sagte, wenn ich nicht auf der Stelle an die Arbeit ginge, werde sie aus dem Bett springen, sich die Kleider vom Leib reißen und nackt ins Freie laufen. Und das hätte ihr sicher nicht gut getan, oder?
Als Nächstes sehen wir Martin am Schreibtisch, er tippt an seiner Geschichte. In dieser Szene ist der Ton besonders aufdringlich - das rasende Rattern der Tasten, ein Stakkato hektischer Aktivität -, und nur langsam nimmt die Lautstärke ab, bis es nahezu still ist und Martin wieder zu sprechen anfängt. Schnitt zurück ins Schlafzimmer. Wir sehen eine Folge einzelner, sehr detaillierter Nahaufnahmen, Stillleben aus der winzigen Welt um Claires
Weitere Kostenlose Bücher