Das Buch der Illusionen
Claire. Ich wollte unbedingt, dass du mir vertraust. Ich dachte, nach ein paar Tagen würdest du schon von allein dahinter kommen - und dann hätte es keine Rolle mehr gespielt.
Dahinter kommen?
Bis jetzt hat Claire verlegen gewirkt, ein wenig zerknirscht, nicht so sehr beschämt ob ihres Täuschungsmanövers als vielmehr enttäuscht, dass man ihr auf die Schliche gekommen ist. Doch als Martin seine Unwissenheit bekennt, ändert sich ihr Gesichtsausdruck. Nun scheint sie aufrichtig erstaunt. Verstehst du nicht, Martin?, sagt sie. Wir sind seit einer Woche zusammen, und du willst mir erzählen, dass du das immer noch nicht kapierst?
Ganz offensichtlich versteht er es nicht - ebenso wenig wie wir. Die schöne kluge Claire ist zu einem Rätsel geworden, und je mehr sie redet, desto weniger vermögen wir ihr zu folgen.
Wer bist du?, fragte Martin. Was zum Teufel treibst du hier?
Ach, Martin, sagt Claire, plötzlich den Tränen nahe. Es ist doch egal, wer ich bin.
Von wegen. Das ist nicht egal.
Doch, mein Liebling, es ist völlig egal.
Wie kannst du das sagen?
Es ist egal, weil du mich liebst. Weil du mich begehrst. Allein das zählt. Alles andere ist unwichtig.
Die Szene endet mit einer Nahaufnahme von Claires Gesicht; es wird ausgeblendet, und bevor das nächste Bild erscheint, hören wir wie von Weitem das leise Geklapper von Martins Schreibmaschine. Mit einer langsamen Aufblende hellt sich die Leinwand wieder auf, und gleichzeitig scheinen die Tippgeräusche näher zu kommen, als bewegten wir uns von außen ins Haus hinein, die Treppe hinauf bis vor Martins Zimmertür. Als das neue Bild scharf wird, ist die gesamte Leinwand mit einer extremen Nahaufnahme von Martins Augen gefüllt. Die Kamera bleibt mehrere Sekunden in dieser Position, und erst als die Erzählerstimme wieder einsetzt, zieht sie sich zurück und zeigt uns Martins Gesicht, Martins Schultern, Martins Hände auf der Schreibmaschine und schließlich Martin an seinem Schreibtisch. Ohne in der Rückwärtsbewegung innezuhalten, verlässt die Kamera das Zimmer und schwebt durch den Flur. Leider, sagt Martin, hatte Claire recht. Ich habe sie geliebt, und ich habe sie begehrt. Aber wie kann man jemanden lieben, dem man nicht vertraut? Die Kamera hält vor Claires Tür. Wie auf telepathisches Kommando schwingt die Tür auf - und schon sind wir drinnen und fahren auf Claire zu, die vor einem Frisierspiegel sitzt und sich schminkt. Ihr Körper ist in einen Unterrock aus schwarzem Satin gehüllt, die Haare hat sie zu einem lose geschlungenen Knoten hochgesteckt, ihr Nacken ist frei. Claire war wie keine andere, sagt Martin. Sie war stärker als alle anderen, wilder als alle anderen, klüger als alle anderen. Ich hatte mein Leben lang auf sie gewartet, und doch, als wir nun zusammen waren, bekam ich es mit der Angst zu tun. Was verbarg sie vor mir? Welch furchtbares Geheimnis wollte sie mir nicht verraten? Ein Teil von mir dachte, ich sollte einfach verschwinden - einfach meine Sachen packen und gehen, bevor es zu spät wäre. Und ein anderer Teil von mir dachte: Sie stellt mich auf die Probe. Wenn ich durchfalle, verliere ich sie.
Augenbrauenstift, Wimperntusche, Wangenrouge, Puder, Lippenstift. Während Martin seinen konfusen selbstkritischen Monolog hält, macht Claire vor dem Spiegel weiter und verwandelt sich von einem Frauentyp in einen anderen. Die impulsive Range verschwindet, statt ihrer erscheint eine glamouröse, raffinierte Verführerin, ein Filmstar. Claire steht auf, schlängelt sich in ein enges schwarzes Cocktailkleid, steigt in ein Paar Stöckelschuhe - und wir erkennen sie kaum noch wieder. Sie ist schlichtweg hinreißend: selbstbeherrscht, zuversichtlich, das Inbild weiblicher Macht. Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen prüft sie sich ein letztes Mal im Spiegel und geht dann aus dem Zimmer.
Schnitt auf den Flur. Claire klopft bei Martin an und sagt: Das Essen ist fertig, Martin. Ich warte unten auf dich.
Schnitt ins Esszimmer. Claire sitzt am Tisch und wartet auf Martin. Sie hat bereits die Vorspeisen hingestellt, der Wein ist entkorkt, die Kerzen brennen. Martin kommt schweigend herein. Claire begrüßt ihn mit einem warmen, freundlichen Lächeln, aber Martin ignoriert es. Er wirkt misstrauisch, bedrückt, völlig unsicher, wie er sich verhalten soll.
Claire argwöhnisch musternd, geht er an die Tischseite, die sie für ihn gedeckt hat, zieht den Stuhl heraus und schickt sich an, Platz zu nehmen. Der Stuhl macht einen soliden
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