Das Buch der Illusionen
und sofort stand ich auf und begann wieder herumzugehen. Ich trat in die Küche, trank ein Glas Wasser und ging in Almas Arbeitszimmer, wo ich zehn, fünfzehn Minuten lang auf und ab schritt und gegen den Drang ankämpfte, einen Blick in ihr Manuskript zu werfen. Wenn ich schon nicht verhindern konnte, dass Hectors Filme vernichtet wurden, sollte ich wenigstens zu verstehen versuchen, warum das geschehen musste. Keine Antwort, die mir bisher auf diese Frage gegeben worden war, hatte dies auch nur annähernd klären können. Ich hatte mein Bestes getan, die Argumente gelten zu lassen, das Denken zu ergründen, das Frieda zu einer so harten und erbarmungslosen Einstellung gebracht hatte, aber nun, da die Feuer entzündet waren, kam mir das alles plötzlich nur noch absurd, sinnlos und entsetzlich vor. Die Antworten standen in dem Buch, die Gründe standen in dem Buch, die Ursprünge der Idee, die zu diesem Augenblick geführt hatte, standen in dem Buch. Ich setzte mich an Almas Schreibtisch. Das Manuskript lag links neben dem Computer - ein gewaltiger Stapel Papier, mit einem Stein beschwert, damit die Blätter nicht fortfliegen konnten. Ich nahm den Stein weg, und darunter war zu lesen: Das Nachleben von Hector Mann, von Alma Grund. Ich nahm das nächste Blatt und las das Motto; es stammte aus Luis Buñuel s Mein letzter Seufzer, dem Buch, das ich am Vormittag in Hectors Arbeitszimmer gesehen hatte. Etwas später, lautete das Zitat, schlug ich vor, wir sollten das Negativ auf der Place du Tertre in Montmartre verbrennen; ich hätte das, wäre die Gruppe einverstanden gewesen, ohne zu zögern getan. Und ich würde es auch heute noch tun. Ich stelle mir einen riesigen Scheiterhaufen in meinem kleinen Garten vor, auf dem alle meine Negative und alle Kopien meiner Filme in Flammen aufgehen. Das würde mir absolut nichts ausmachen. (Seltsamerweise stimmten die Surrealisten jedoch gegen meinen Vorschlag. )
Damit war der Bann gebrochen. Ich hatte in den sechziger und siebziger Jahren einige Filme Buñuels gesehen, aber seine Autobiographie kannte ich nicht; ich musste erst einmal kurz darüber nachdenken, was ich da gerade gelesen hatte. Ich blickte auf, und dadurch dass ich meine Aufmerksamkeit - wenn auch noch so kurz - von Almas Manuskript abwandte, gewann ich Zeit, mich neu zu sammeln, mich vom Weiterlesen abzuhalten. Ich legte das erste Blatt wieder auf seinen Platz und bedeckte den Titel mit dem Stein. Dabei rückte ich auf dem Stuhl nach vorn und geriet so in eine Position, von der aus ich etwas sehen konnte, das ich vorher nicht bemerkt hatte: ein kleines grünes Notizbuch, das zwischen Manuskript und Wand auf dem Schreibtisch lag. Es war von der Größe eines Schulschreibhefts, und aus dem abgenutzten Zustand des Umschlags und dem aufgeplatzten Leinwandrücken konnte ich schließen, dass es ziemlich alt sein musste. So alt, dass es eines von Hectors Tagebüchern sein könnte, sagte ich mir - und genau das war es denn auch.
Die nächsten vier Stunden saß ich mit dem Notizbuch auf dem Schoß in einem uralten Clubsessel im Wohnzimmer und las es zweimal von Anfang bis Ende. Es hatte sechsundneunzig Seiten und behandelte einen Zeitraum von ungefähr anderthalb Jahren - vom Herbst 1930 bis zum Frühjahr 1932; der erste Eintrag schilderte eine von Hectors Englischstunden bei Nora, der letzte einen nächtlichen Spaziergang durch Sandusky, einige Tage nachdem er Frieda seine Schuld gestanden hatte. Falls ich noch irgendwelche Zweifel an der Geschichte, die Alma mir erzählt hatte, gehabt haben sollte, wurden sie durch die Lektüre des Tagebuchs zerstreut. Der Hector, der dies geschrieben hatte, war derselbe Hector, von dem sie im Flugzeug gesprochen hatte, derselbe gequälte Mensch, der aus dem Nordwesten weggelaufen war, der in Montana, Chicago und Cleveland mehrmals kurz davor gewesen war, sich umzubringen, der die Erniedrigung einer sechsmonatigen Verbindung mit Sylvia Meers ertragen und bei einem Banküberfall in Sandusky eine Schussverletzung erhalten und überlebt hatte. Seine Handschrift war klein und krakelig, mit vielen Streichungen und Bleistiftkorrekturen, Rechtschreibfehlern und Tintenklecksen, und da er das Papier beidseitig beschrieben hatte, war es nicht ganz einfach, da mitzukommen. Aber es gelang mir. Nach und nach habe ich so ziemlich das meiste verstanden, und jeder Absatz, den ich entzifferte, deckte sich mit Almas Darstellungen; alles passte zusammen. Ich nahm das Notizbuch, das sie mir gegeben hatte,
Weitere Kostenlose Bücher