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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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darüber Sorgen machen sollte. Am Abend zuvor hatte ich die beiden am Küchentisch beobachtet und keine Spur eines Konfliktes wahrgenommen. Ich erinnerte mich an die Beunruhigung in Almas Stimme, an Friedas behutsam vorgetragene Bitte, Alma möge die Nacht im Haupthaus verbringen, an den familiären Eindruck, den die beiden auf mich machten. Bei Menschen, die einander so nahe sind, ist es nichts Ungewöhnliches, dass sie einander beschimpfen und sich in der Hitze des Gefechts Dinge sagen, die sie später bereuen - aber Almas Ausbruch war außerordentlich heftig gewesen, bis hin zur Androhung körperlicher Gewalt, was (nach meiner Erfahrung) bei Frauen nur selten vorkommt. Ich bin so sauer, dass ich ihr ins Gesicht schlagen könnte . Wie oft mochte sie so etwas gesagt haben? Neigte sie generell zu so unbesonnenen, übertriebenen Behauptungen, oder sprach dies für eine neue Phase ihrer Beziehung zu Frieda, einen plötzlichen Bruch nach Jahren stiller Feindschaft? Hätte ich mehr gewusst, dann hätte ich mir diese Frage nicht zu stellen brauchen. Dann wäre mir klar gewesen, dass Alma es wirklich ernst gemeint hatte, dass die Unbeherrschtheit ihrer Worte ein klarer Hinweis darauf war, dass die Dinge bereits außer Kontrolle gerieten.
    Als ich im Badezimmer fertig war, setzte ich meine ziellosen Streifzüge durch das Haus fort. Es war klein und eng, kompakt gebaut, etwas unbeholfen in der Anlage, aber so beschränkt es auch sein mochte, Alma schien nur einen Teil davon zu bewohnen. Eines der hinteren Zimmer diente ausschließlich als Lagerraum. An anderthalb Wänden waren Pappkartons gestapelt, auf dem Fußboden lagen etwa ein Dutzend ausrangierte Gegenstände: ein Stuhl, dem ein Bein fehlte, ein verrostetes Dreirad, eine fünfzig Jahre alte mechanische Schreibmaschine, ein tragbarer Schwarz-Weiß-Fernseher mit abgebrochener Teleskopantenne, ein Haufen Stofftiere, ein Diktafon und ein paar angebrochene Farbeimer. Ein anderes Zimmer war vollständig leer. Keine Möbel, keine Matratze, nicht einmal eine Glühbirne. In einem Deckenwinkel hing ein riesiges, kompliziertes Spinnennetz. Darin baumelten drei oder vier tote Fliegen, aber deren vertrocknete Körper waren beinahe schon so schwerelos wie Staub, sodass ich vermutete, die Spinne habe ihr Netz aufgegeben und sich anderswo niedergelassen.
    Damit blieben die Küche, das Wohnzimmer, das Schlafzimmer und das Arbeitszimmer. Am liebsten hätte ich mich hingesetzt und Almas Buch gelesen, fühlte mich aber ohne ihre Erlaubnis nicht dazu berechtigt. Sie hatte inzwischen mehr als sechshundert Seiten geschrieben, aber die waren noch nicht über das Stadium des Rohentwurfs hinaus, und in ein unfertiges Werk darf man nur hineinsehen, wenn der Autor einen ausdrücklich darum bittet. Alma hatte mir das Manuskript gezeigt (Da ist das Monster , hatte sie gesagt), aber sie hatte nichts davon gesagt, dass ich es lesen sollte, und ich wollte mein Leben mit ihr nicht damit anfangen, dass ich ihr Vertrauen missbrauchte. Stattdessen schlug ich die Zeit tot, indem ich mir alles andere in den vier von ihr bewohnten Räumen ansah: die Nahrungsmittel im Kühlschrank, die Kleider im Schlafzimmerschrank, die Bücher, Schallplatten und Videos im Wohnzimmer. So erfuhr ich, dass sie Magermilch trank und sich ungesalzene Butter aufs Brot strich, dass sie die Farbe Blau bevorzugte (hauptsächlich in dunkleren Tönen) und in Literatur und Musik einen breit gefächerten Geschmack hatte - ein Mädchen ganz nach meinem Herzen. Dashiell Hammett und André Breton; Pergolesi und Mingus; Verdi, Wittgenstein und Villon. In einer Ecke fand ich alle Bücher, die ich zu Helens Lebzeiten veröffentlicht hatte - die zwei Bände mit Rezensionen, die vier Bücher mit übersetzten Gedichten -, und wurde mir dessen bewusst, dass ich alle sechs zusammen noch niemals außerhalb meines Hauses gesehen hatte. In einem anderen Regal standen Bücher von Hawthorne, Melville, Emerson und Thoreau. Ich zog eine Taschenbuchauswahl von Hawthornes Erzählungen heraus und schlug Das Muttermal auf, das ich vor dem Regal auf dem kalten Kachelboden las, wobei ich mir vorzustellen versuchte, was Alma empfunden haben mochte, als sie es als junges Mädchen gelesen hatte. Ich kam gerade zum Schluss (Der augenblickliche Zustand lastete zu schwer auf ihm; er vermochte nicht über das Schattenreich der Zeit hinauszublicken... ) , als mir durch ein Fenster hinten im Haus Kerosingeruch in die Nase wehte.
    Der Geruch machte mich etwas nervös,

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