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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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und schrieb einige wichtige Einträge ab -wörtlich und in voller Länge, um wenigstens etwas von Hectors eigenen Worten zu bewahren. Unter anderem sein letztes Gespräch mit Red O'Fallon im Bluebell Inn, die klägliche Kraftprobe mit Meers im Fond des von einem Chauffeur gesteuerten Wagens und folgende Szene aus seiner Zeit in Sandusky (als er nach der Entlassung aus dem Krankenhaus im Haus der Spellings wohnte), womit das Tagebuch endete:
    31. 3. 32. Heute Abend F 's Hund ausgeführt. Ein zappliger schwarzer Köter, Arp heißt er, nach dem Künstler. Dem Dadaisten. Die Straße war menschenleer. Dichter Nebel, konnte mich kaum orientieren. Vielleicht auch etwas Regen, aber so fein, dass er mir wie Dampf vorkam. Ein Gefühl, als hätte ich den Erdboden verlassen und ginge auf Wolken. Als wir uns einer Strcßenlaterne näherten, begann in der trüben Suppe plötzlich alles zu glitzern. Eine Welt aus Pünktchen, hundert Millionen Pünktchen aus gebrochenem Licht. Sehr merkwürdig, sehr schön: Statuen aus leuchtendem Nebel. Arp zerrte schnüffelnd an der Leine. Wir gingen weiter, gelangten ans Ende des Blocks, bogen um die Ecke. Wieder eine Laterne, und dann, als ich kurz stehen blieb, weil Arp das Bein hob, fiel mir etwas auf. Ein Leuchten auf dem Gehsteig, ein helles Licht, das mir aus den Schatten entgegenstrahlte. Bläulich angehaucht - intensiv blau, das Blau von F's Augen. Um es besser zu sehen, ging ich in die Hocke und er kannte, dass es ein Stein war, möglicherweise ein Edelstein. Ein Mondstein, dachte ich, oder ein Saphir, vielleicht aber auch nur eine Glasscherbe. Klein genug für einen Ring; oder aber es war ein Anhänger, der sich von einer Halskette oder einem Armband gelöst hatte, ein verlorener Ohrring. Mein erster Gedanke war, ihn F's Nichte Dorothea zu schenken, Freds vier Jahre alter Tochter. Die kleine Dotty. Sie kommt oft ins Haus. Liebt ihre Oma, spielt gern mit Arp, liebt F. Ein reizendes Kind, verrückt nach Flitter und Schmuck, zieht sich dauernd verrückte Sachen an. Ich sagte mir: Den Stein bringe ich Dotty mit. Als ich ihn aufheben will, als meine Finger den Stein berühren, stelle ich fest, dass es nicht das war, was ich gedacht hatte. Das Ding war weich, es löste sich auf, als ich es anfasste, und zerfloss zu einem glitschigen Schleim. Was ich für einen Stein gehalten hatte, war ein Klumpen menschlicher Spucke. Jemand war hier entlanggegangen, hatte seinen Rachen auf den Gehweg entleert, und der Speichel hatte sich zusammengezogen, sich zu einer blasigen, facettenreichen Kugel geballt. Angestrahlt vom Laternenlicht, das zu jenem leuchtendem Blau gebrochen wurde, hatte der Klumpen wie ein fester Gegenstand ausgesehen. Kaum erkannte ich meinen Irrtum, zuckte meine Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt. Mir war schlecht, ich wurde von Ekel geschüttelt. Speichel troff mir von den Fingern. Wenn es der eigene ist, mag das nicht so schlimm sein, aber aus dem Mund eines Fremden ist er widerlich. Ich nahm mein Taschentuch und wischte mir so gut es ging die Finger ab. Als ich fertig war, brachte ich es nicht über mich, das Taschentuch wieder einzustecken. Ich hielt es auf Armeslänge von mir weg, ging ans Ende der Straße und warf es in die nächstbeste Mülltonne.
    Drei Monate nachdem er dies geschrieben hatte, heirateten Hector und Frieda im Wohnzimmer von Mrs. Spellings Haus. Dann machten sie die Hochzeitsreise nach New Mexico, kauften etwas Land und beschlossen, sich dort niederzulassen. Jetzt verstand ich, warum sie ihr Haus Blue Stone Ranch genannt hatten. Hector hatte diesen Stein bereits gesehen, und er wusste, der Stein existierte nicht, das Leben, das sie gemeinsam aufbauen wollten, war auf eine Illusion gegründet.
    Die Verbrennungsaktion dauerte bis sechs Uhr, doch bis Alma zurückkam, war es beinahe sieben. Draußen war es noch hell, aber die Sonne ging bereits unter, und ich erinnere mich, wie sich das Haus, kurz bevor sie durch die Tür trat, mit Licht erfüllte: Breite Strahlen strömten durch die Fenster, eine Flut aus glühendem Gold und Purpur, die sich in jeden Winkel des Zimmers ergoss. Das war erst mein zweiter Wüstensonnenuntergang, und auf eine so gleißende Attacke war ich nicht vorbereitet. Ich wechselte aufs Sofa, meinem Sessel gegenüber, weg von dem grellen Schein, aber kaum hatte ich es mir auf dem neuen Platz bequem gemacht, hörte ich in der Tür hinter mir das Schloss gehen. Noch mehr Licht fiel ins Zimmer: ein roter Sturzbach aus verflüssigter Sonne,

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