Das Buch der Illusionen
ausrechnete, wie viel Zeit wir an den anderen drei Tagen zusammen verbracht hatten, kam ich auf eine Summe von vierundfünfzig Stunden. Achtzehn dieser Stunden hatten wir mit Schlaf vergeudet. Weitere sieben waren wir aus irgendwelchen Gründen getrennt: die sechs Stunden, die ich allein in ihrem Haus gewartet hatte, die fünf bis zehn Minuten, die ich bei Hector gewesen war, die einundvierzig Minuten, in denen ich den Film gesehen hatte. Alles in allem habe ich sie also nur neunundzwanzig Stunden tatsächlich sehen und berühren, mich in ihrer Nähe aufhalten können. Fünfmal haben wir uns geliebt. Sechsmal haben wir zusammen gegessen. Einmal habe ich sie gebadet. Alma war so schnell in meinem Leben aufgetaucht und wieder verschwunden, dass es mir manchmal so vorkam, als hätte ich sie mir nur erträumt. Das machte es mir am schwersten, mit ihrem Tod fertig zu werden. Es gab nicht genug, woran ich mich erinnern konnte, und deshalb kam ich immer wieder auf die gleichen Dinge zurück, zählte immer wieder dieselben Zahlen zusammen und gelangte immer zu denselben armseligen Ergebnissen. Zwei Autos, ein Düsenflugzeug, sechs Gläser Tequila. Drei Betten in drei Häusern in drei verschiedenen Nächten. Vier Telefonate. Ich war so durcheinander, dass mir, um sie zu betrauern, nichts anderes einfiel, als selbst am Leben zu bleiben. Monate später, als ich die Übersetzung beendete und von Vermont fortzog, begriff ich, dass dies Almas Verdienst gewesen war. In acht kurzen Tagen hatte sie mich von den Toten zurückgeholt.
Was danach aus mir wurde, spielt keine Rolle. Dieses Buch ist aus Fragmenten zusammengesetzt, es ist eine Sammlung von Schmerzen und halb erinnerten Träumen, und um die Geschichte zu erzählen, muss ich mich auf die Elemente der Geschichte selbst beschränken. Ich kann nur sagen, dass ich jetzt in einer Großstadt lebe, irgendwo zwischen Boston und Washington, D. C. und dass dieser Text das Erste ist, woran ich mich seit Die stumme Welt des Hector Mann versucht habe. Eine Zeit lang habe ich wieder als Professor gearbeitet, dann habe ich eine andere Arbeit gefunden, die mich mehr befriedigte, und die Lehrtätigkeit endgültig aufgegeben. Ich sollte auch hinzufügen (für diejenigen, die so etwas interessiert), dass ich nicht mehr allein lebe.
Es ist elf Jahre her, seit ich aus New Mexico zurückgekommen bin, und in dieser ganzen Zeit habe ich mit niemandem darüber gesprochen, was ich dort erlebt habe. Kein Wort über Alma, kein Wort über Hector und Frieda, kein Wort über die Blue Stone Ranch. Wer hätte eine solche Geschichte geglaubt, selbst wenn ich versucht hätte, sie zu erzählen? Ich hatte ja nichts in der Hand, keinen einzigen Beweis für meine Darstellung. Hectors Filme waren vernichtet, Almas Buch war vernichtet, und das Einzige, was ich irgendwem hätte vorweisen können, war meine jämmerliche kleine Notizensammlung, die Trilogie meiner Aufzeichnungen aus der Wüste: die Analyse von Martin Frost, die Auszüge aus Hectors Tagebuch und ein Verzeichnis außerirdischer Pflanzen, das überhaupt nichts mit alldem zu tun hatte. Da halte ich lieber den Mund, dachte ich mir, und lasse das Rätsel um Hector Mann ungelöst. Inzwischen schrieben auch andere über seine Filme, und als die Stummfilmkomödien 1992 auf Video herauskamen (eine Box mit drei Kassetten), fand der Mann im weißen Anzug allmählich so etwas wie eine Anhängerschaft. Das war natürlich nur ein kleines Comeback, ein winziges Ereignis im Land industriell gefertigter Unterhaltung und Milliarden Dollar schwerer Werbeetats, aber befriedigend war es dennoch, und ich freute mich jedes Mal wenn ich zufällig auf Artikel stieß, in denen Hector als nicht unbedeutender Meister seines Genres oder (um aus Stanley Vaubels Essay in Sight and Sound zu zitieren) als der letzte große Künstler der Slapstick-Ära gepriesen wurde. Das hätte reichen sollen. Als 1994 ein Fanclub gegründet wurde, ernannte man mich zum Ehrenmitglied. Da ich die erste und einzige Monografie über Hectors Werk verfasst hatte, betrachtete man mich gewissermaßen als Vater der Bewegung und hoffte, dass ich meinen Segen dazugäbe. Bei der letzten Zählung hatte die Internationale Gesellschaft der Hector-Mannstollen über dreihundert zahlende Mitglieder, von denen einige in so fernen Ländern wie Schweden oder Japan lebten. Der Vorsitzende lädt mich regelmäßig zum Jahrestreffen in Chicago ein, und als ich 1997 schließlich akzeptierte, wurde mein Vortrag mit
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