Das Buch der Illusionen
einmal ins Büro zurück und sagte dem Mann, ich hätte es mir anders überlegt. Ich wolle noch ein Wort hinzufügen, sagte ich. Die Inschrift solle lauten: ALMA GRUND, 1950-1988. SCHRIFTSTELLERIN. Außer dem zwanzigseitigen Abschiedsbrief, den sie mir in der letzten Nacht ihres Lebens geschrieben hatte, hatte ich niemals ein Wort von ihr gelesen. Aber Alma war wegen eines Buchs gestorben, und die Gerechtigkeit verlangte, dass sie als Autorin dieses Buchs in Erinnerung blieb.
Ich fuhr nach Hause. Der Rückflug nach Boston verlief problemlos. Im Mittleren Westen gerieten wir in Turbulenzen; ich aß etwas Huhn und trank ein Glas Wein, ich schaute aus dem Fenster - aber nichts geschah. Weiße Wolken, die silberne Tragfläche, blauer Himmel. Nichts.
Zu Hause stellte ich fest, dass ich nichts mehr zu trinken hatte, aber es war zu spät, noch loszufahren und eine neue Flasche zu kaufen. Ich weiß nicht, ob das meine Rettung war, aber ich hatte vergessen, dass ich an meinem letzten Abend dort den Tequila ausgetrunken hatte, und da in West T— im Umkreis von dreißig Meilen alle Geschäfte geschlossen waren und keine Hoffnung bestand, irgendwo ein betäubendes Getränk aufzutreiben, musste ich mich nüchtern schlafen legen. Am Morgen trank ich zwei Tassen Kaffee und machte mich wieder an die Arbeit. Ursprünglich hatte ich geplant, einfach vor die Hunde zu gehen, in den Alltag aus trostloser Trauer und alkoholischem Untergang zurückzukehren, aber im Licht dieses Sommermorgens in Vermont widersetzte sich etwas in mir dem Drang, mich selbst zu zerstören. Chateaubriand gelangte gerade ans Ende seiner langen Betrachtung über das Leben Napoleons, und ich traf ihn wieder im vierundzwanzigsten Buch seiner Memoiren, bei dem entthronten Kaiser auf der Insel Sankt Helena. Schon sechs Jahre währte das Exil. Er hatte weniger Zeit gebraucht, um Europa zu erobern. Er blieb fast immer im Hause und las Ossian in der italienischen Übersetzung von Cesarotti... Wenn Bonaparte ausging, wanderte er über unwegsame Pfade, die von Aloen und duftendem Ginster eingefasst waren... oder verbarg sich in dem dichten Nebel, der über die Erde wallte. In diesem Augenblick der Geschichte welkt alles an einem Tag dahin; wer zu lange lebt, stirbt bei lebendigem Leibe. Wir schreiten durchs Leben und lassen ein paar Bilder von uns zurück, jedes verschieden von den anderen; wir sehen sie durch den Nebel der Vergangenheit, wie Porträts aus den verschiedenen Epochen unseres Lebens.
Ich war mir nicht sicher, ob ich mir womöglich nur weisgemacht hatte, ich sei stark genug, die Arbeit fortzusetzen - oder ob ich einfach gefühllos geworden war. Den Rest des Sommers hatte ich das Gefühl, in einer anderen Dimension zu leben, meiner Umgebung zwar bewusst, zugleich aber entfernt davon, als sei mein Körper in durchsichtige Gaze gewickelt. Ich arbeitete unentwegt am Chateaubriand, stand früh auf und ging spät zu Bett, und so kam ich im Lauf der Wochen stetig voran und steigerte mein Tagespensum nach und nach von drei auf vier Seiten der Pleiade-Ausgabe. Das sah wie Fortschritt aus, das kam mir wie Fortschritt vor, es war aber auch die Zeit, in der ich eine Neigung zu merkwürdigen Konzentrationsstörungen entwickelte, zu Anfällen von Geistesabwesenheit, die sich immer dann einzustellen schienen, wenn ich mich von meinem Schreibtisch entfernte. Drei Monate hintereinander vergaß ich, die Telefonrechnung zu bezahlen, ich ignorierte jede Mahnung, die mit der Post eintraf, und beglich die Rechnung erst, als eines Tages ein Mann in meinem Garten auftauchte und mir das Telefon abstellen wollte. Als ich zwei Wochen später zum Einkaufen nach Brattleboro fuhr, wo ich unter anderem die Post und die Bank aufsuchen musste, brachte ich es fertig, mein Portemonnaie mit einem Packen Briefe zu verwechseln und in den Briefkasten zu werfen. Solche Vorfälle verwirrten mich, aber nie kam ich auf die Idee, einmal darüber nachzudenken, aus welchem Grund mir dergleichen geschah. Um darauf eine Antwort zu finden, hätte ich mich hinknien und die Falltür unter dem Teppich aufmachen müssen, und einen Blick in diese Finsternis konnte ich mir einfach nicht leisten. Abends, wenn ich mit der Arbeit fertig war und gegessen hatte, saß ich meist noch lange in der Küche und schrieb die Notizen ab, die ich mir bei der Vorführung von Das Innenleben des Martin Frost gemacht hatte.
Ich hatte Alma nur acht Tage lang gekannt. Fünf dieser Tage waren wir getrennt gewesen, und als ich
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