Das Buch der Illusionen
enthusiastischem Beifall bedacht. Danach stellte ich mich für Fragen zur Verfügung, und jemand wollte wissen, ob ich bei den Recherchen für mein Buch auf irgendwelche Informationen zu Hectors Verschwinden gestoßen sei. Nein, sagte ich, leider nicht. Ich habe monatelang gesucht, aber keinen einzigen neuen Hinweis finden können.
Im März 1998 bin ich einundfünfzig geworden. Sechs Monate später, am ersten Herbsttag, nur eine Woche nachdem ich im American Film Institute in Washington an einer Podiumsdiskussion teilgenommen hatte, bekam ich meinen ersten Herzinfarkt. Der zweite erwischte mich am 26. November bei einem Thanksgiving-Essen im Haus meiner Schwester in Baltimore. Der erste war ziemlich harmlos gewesen, ein so genannter leichter Infarkt, das Äquivalent zu einem kurzen Gesangssolo. Der zweite ist wie ein Chorkonzert für zweihundert Sänger und ein komplettes Blasorchester durch meinen Körper gebraust und hat mich beinahe umgebracht. Bis dahin hatte ich mich geweigert, mich Einundfünfzigjährigen für alt zu halten. Gewiss war ich nicht mehr sonderlich jung, aber es war auch nicht das Alter, in dem ein Mann sich aufs Ende vorbereiten und seinen Frieden mit der Welt schließen soll. Man behielt mich mehrere Wochen im Krankenhaus, und was die Ärzte mir mitzuteilen hatten, entmutigte mich so sehr, dass ich diese Meinung änderte. Um einen Ausdruck zu verwenden, den ich immer gemocht habe: Ich fand heraus, dass meine Tage gezählt waren.
Ich glaube nicht, dass es ein Fehler war, mein Geheimnis all diese Jahre für mich zu behalten, und ich glaube nicht, dass es ein Fehler ist, es jetzt zu lüften. Die Umstände haben sich geändert, und mit ihnen hat sich auch mein Denken geändert. Mitte Dezember wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen, und Anfang Januar schrieb ich bereits die ersten Seiten dieses Buchs. Jetzt haben wir Ende Oktober, und indem ich ans Ende meines Projekts gelange, bemerke ich mit einer gewissen grimmigen Befriedigung, dass wir uns auch den letzten Wochen des Jahrhunderts nähern - Hectors Jahrhundert: das Jahrhundert, das achtzehn Tage vor seiner Geburt begann und dessen Ende kein halbwegs normaler Mensch betrauern wird. Nach Chateaubriands Vorbild werde ich selbst keinen Versuch unternehmen, das, was ich geschrieben habe, zu veröffentlichen. Ich habe bei meinem Anwalt einen Brief hinterlegt, sodass er wissen wird, wo das Manuskript zu finden ist und was er nach meinem Tod damit machen soll. Ich bin fest entschlossen, hundert Jahre alt zu werden, aber für den Fall, dass ich es nicht so weit schaffe, sind alle notwendigen Vorkehrungen getroffen. Wenn dieses Buch einmal erscheint, lieber Leser, kannst du sicher sein, dass der Mann, der es geschrieben hat, längst tot ist.
Es gibt Gedanken, die den Geist erdrücken, Gedanken von solcher Macht und Hässlichkeit, dass sie einen kaputtmachen, sobald man sie zu denken anfängt. Ich hatte Angst vor dem, was ich wusste, Angst, dass mein Wissen mich in einen Strudel des Entsetzens ziehen könnte; daher fasste ich den Gedanken erst in Worte, als es zu spät war und Worte nichts mehr ausrichten konnten. Ich habe keine Tatsachen vorzulegen, keine konkreten Beweise, die vor Gericht Bestand haben würden, aber nachdem ich die Ereignisse jener Nacht in den vergangenen elf Jahren immer wieder durchgespielt habe, bin ich mir nahezu sicher, dass Hector keines natürlichen Todes gestorben ist. Er war schwach, als ich ihn sah, ja, schwach und zweifellos nur noch wenige Tage von seinem Tod entfernt, aber seine Gedanken waren klar, und als er mich am Ende unseres Gespräch am Arm fasste, drückte er mir seine Finger in die Haut. Es war der Griff eines Mannes, der weiterleben wollte. Er wollte am Leben bleiben, bis wir unsere Angelegenheit abgeschlossen hätten, und als ich, nachdem Frieda mich aus dem Zimmer geschickt hatte, nach unten ging, erwartete ich nichts anderes, als ihn am nächsten Morgen wieder zu sehen. Man bedenke das Timing - man bedenke, wie schnell dann die Katastrophen aufeinandergefolgt sind. Alma und ich gingen zu Bett, und als wir eingeschlafen waren, ging Frieda auf Zehenspitzen durch den Flur, schlich in Hectors Zimmer und erstickte ihn mit einem Kissen. Ich bin überzeugt davon, dass sie es aus Liebe getan hat. Sie fühlte sich nicht verraten, sie empfand weder Zorn noch Rachegelüste - es war schlicht der Eifer des Fanatikers für eine gerechte und heilige Sache. Hector kann nicht viel Widerstand geleistet haben. Sie war
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