Das Buch der Illusionen
nicht lange genug, du weißt nicht, was du wirklich empfindest.
Du hast gesagt, du warst verheiratet. Es hat die Männer offenbar nicht davon abgehalten, dich attraktiv zu finden.
Ich mag Männer. Nach einer Weile mögen sie mich auch. Vielleicht habe ich nicht so viel erlebt wie andere Frauen, aber ich habe auch so meine Erfahrungen gemacht. Wenn du lange genug bei mir bleibst, siehst du's am Ende gar nicht mehr.
Aber ich sehe es gern. Es macht dich zu etwas Besonderem, zu einer Frau, die aussieht wie keine andere. Du bist die einzige Frau, die ich je gesehen habe, die nur wie sie selbst aussieht.
Das hat mein Vater auch immer gesagt. Es sei ein besonderes Geschenk Gottes, es mache mich schöner als alle anderen Mädchen.
Hast du ihm geglaubt?
Manchmal. Und manchmal fühlte ich mich verflucht. Es ist doch nun einmal hässlich, und als Kind läuft man damit herum wie eine Zielscheibe. Ich habe immer gedacht, eines Tages würde ich es loswerden können, irgendein Arzt operiert mich, und dann sehe ich normal aus. Immer wenn ich nachts von mir geträumt habe, waren meine beiden Gesichtshälften gleich. Weiß und glatt, vollkommen symmetrisch. Das hat erst aufgehört, als ich vierzehn war.
Du hast gelernt, damit zu leben.
Mag sein, ich weiß nicht. Aber um diese Zeit ist etwas mit mir passiert, mein Denken hat sich geändert. Das war eine wichtige Erfahrung für mich, ein Wendepunkt in meinem Leben.
Jemand hat sich in dich verliebt.
Nein, jemand hat mir ein Buch gegeben. Meine Mutter hat mir zu Weihnachten eine Anthologie mit amerikanischen Kurzgeschichten geschenkt. Classic American Tales, ein dickes Buch mit grünem Leineneinband, und auf Seite sechsundvierzig stand eine Erzählung von Nathaniel Hawthorne. Das Muttermal. Kennst du die Geschichte?
Nur vage. Ich glaube, seit der Highschool habe ich sie nicht mehr gelesen.
Ich habe sie sechs Monate lang jeden Tag gelesen. Hawthorne hat sie für mich geschrieben. Es war meine Geschichte.
Ein Wissenschaftler und seine junge Braut. Darum geht's doch, oder? Er versucht, das Muttermal von ihrem Gesicht zu entfernen.
Ein rotes Muttermal. Von der linken Seite ihres Gesichts.
Kein Wunder, dass die Geschichte dir gefallen hat.
Gefallen ist ein viel zu schwacher Ausdruck. Ich war besessen davon. Die Geschichte hat mich bei lebendigem Leibe aufgefressen.
Das Muttermal sieht aus wie eine Hand, oder? Allmählich fällt es mir wieder ein. Hawthorne sagt, es sieht aus wie der Abdruck einer Hand auf ihrer Wange.
Aber klein. Wie die Hand eines Pygmäen, die Hand eines Säuglings.
Sie hat diesen einen winzigen Makel, ansonsten aber ist ihr Gesicht vollkommen. Sie ist als außerordentliche Schönheit bekannt.
Georgiana. Bis sie Aylmer heiratet, hält sie das nicht einmal für einen Makel. Er ist es, der sie lehrt, es zu verabscheuen, der sie gegen sich selbst aufbringt und den Wunsch in ihr weckt, es entfernen zu lassen. Für ihn ist das nicht bloß ein kleiner Fehler, nicht bloß etwas, das ihre körperliche Schönheit zerstört. Für ihn ist es der Hinweis auf eine innere Verderbtheit, ein Flecken auf Georgianas Seele, ein Zeichen für Sünde, Tod und Verfall.
Der Stempel der Sterblichkeit.
Oder einfach das, was wir für menschlich halten. Das macht die Sache so tragisch. Aylmer verzieht sich in sein Labor und experimentiert mit Elixieren und Zaubertränken, er sucht nach einer Rezeptur, mit der sich der verhasste Fleck auslöschen lässt, und die naive Georgiana macht dabei mit. Das ist das Schreckliche. Sie will, dass er sie liebt. Alles andere ist ihr gleichgültig, und wenn die Entfernung des Muttermals der Preis ist, den sie für seine Liebe zu zahlen hat, dann ist sie eben bereit, ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen.
Und am Ende tötet er sie.
Aber vorher verschwindet noch das Muttermal. Das ist sehr wichtig. In letzter Sekunde, unmittelbar vor ihrem Tod, verschwindet der Fleck von ihrer Wange. Er ist weg, vollständig weg, und erst dann, genau in diesem Augenblick, stirbt die arme Georgiana.
Das Muttermal ist sie selbst. Bringt man es zum Verschwinden, verschwindet sie gleich mit.
Du ahnst nicht, wie wichtig diese Geschichte für mich war. Immer wieder habe ich sie gelesen, ständig darüber nachgedacht, und ganz allmählich begann ich mich so zu sehen, wie ich war. Andere Leute trugen ihr Menschsein im Innern, ich aber trug das meine im Gesicht. Das war der Unterschied zwischen mir und den anderen. Ich durfte nicht verbergen, wer ich war. Wenn Leute
Weitere Kostenlose Bücher