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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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zweieinhalbstündige Fahrt nach Tierra del Sueño angetreten hatten. Sie ging über eine Reihe von Wüstenstraßen, und in ihrem Verlauf wurde der Spätnachmittag zur Dämmerung und die Dämmerung zur Nacht. In meiner Erinnerung hört die Geschichte erst auf, als wir das Tor der Ranch erreichten - und selbst da war sie noch nicht ganz zu Ende. Alma hatte fast sieben Stunden lang erzählt, und doch war das nicht Zeit genug gewesen, alles unterzubringen.
    Am Anfang machte sie ziemlich viele Sprünge, wechselte zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her, und ich brauchte eine Weile, um mich zu orientieren und die Chronologie der Ereignisse zu begreifen. Das stehe alles in ihrem Buch, sagte sie, alle Namen und Daten, alle wesentlichen Tatsachen, und es sei nicht nötig, die Einzelheiten von Hectors Leben vor seinem Verschwinden noch einmal durchzugehen - jedenfalls nicht an diesem Nachmittag im Flugzeug, nicht wenn ich das Buch in den kommenden Tagen und Wochen selbst würde lesen können.
    Wichtig waren die Dinge, die sich auf Hectors Leben im Verborgenen bezogen, die Jahre, die er in der Wüste verbracht hatte, um Filme zu schreiben und zu produzieren, die nie in der Öffentlichkeit gezeigt worden waren. Nur dieser Filme wegen fuhr ich jetzt mit ihr nach New Mexico, und wenn es auch ganz interessant sein mochte, dass Hector als Chaim Mandelbaum zur Welt gekommen war -auf einem holländischen Dampfer mitten auf dem Atlantik -, so war es doch nicht besonders wichtig. Nebensächlich, dass seine Mutter gestorben war, als er zwölf war, und auch, dass sein Vater, ein Kunsttischler ohne jedes Interesse an Politik, 1919 im Verlauf der Semana Tragica in Buenos Aires von antibolschewistischen, antisemitischen Pöbelhaufen beinahe zu Tode geprügelt worden war. Das hatte zu Hectors Emigration nach Amerika geführt, aber sein Vater hatte ihn schon einige Zeit vorher zu diesem Schritt gedrängt, und die Krise in Argentinien hatte die Sache lediglich beschleunigt. Es war überflüssig, die zwei Dutzend Jobs aufzuzählen, die er nach der Ankunft in New York gehabt hatte, und noch weniger dringend war es, von den Dingen zu reden, die ihm 1925, als er nach Kalifornien gekommen war, widerfahren waren. Ich wusste genug von seinen Anfängen als Statist, Kulissenbauer und Nebendarsteller in Dutzenden von verlorenen und vergessenen Filmen, daher konnten wir auch diese Jahre übergehen; ebenso bekannt war mir seine verworrene Beziehung zu Hunt, auch die brauchten wir nicht zu diskutieren. Die Affäre hat Hector das Filmgeschäft verleidet, sagte Alma, aber er war nicht bereit aufzugeben, und bis zu jenem Abend am 14. Januar 1929 hatte er niemals daran gedacht, dass er Kalifornien eines Tages würde verlassen müssen.
    Ein Jahr vor seinem Verschwinden wurde er von Brigid O'Fallon für Photoplay interviewt. Eines Sonntagnachmittags um drei war sie in seinem Haus am North Orange Drive aufgetaucht, und um fünf wälzten sie sich schon auf dem Teppich und erkundeten gegenseitig ihre diversen Körperöffnungen. So hat Hector es mit Frauen oft getrieben, sagte Alma, das war kaum das erste Mal, dass er seine Verführungskünste eingesetzt hat, um eine schnelle Eroberung zu machen. O'Fallon war erst dreiundzwanzig, eine aufgeweckte Katholikin aus Spokane, die am Smith College studiert hatte und dann in den Westen zurückgegangen war, um als Journalistin Karriere zu machen. Zufällig hatte Alma auch am Smith College studiert, und sie nutzte ihre Verbindungen dorthin, um ein Exemplar des Jahrbuchs von 1926 aufzutreiben. Das Porträtfoto von O'Fallon war wenig aussagekräftig. Ihre Augen standen zu nah beieinander, sagte Alma, ihr Kinn war zu breit, und der Bubikopf stand ihr überhaupt nicht. Trotzdem hatte sie etwas sehr Lebendiges, ein Funkeln in den Augen, das auf Schalk oder Humor hindeutete, auf Klugheit und Elan. Eine Fotografie zeigte O'Fallon als Mitglied der Theatergruppe bei einer Aufführung von Der Sturm, herausgeputzt als Miranda mit einem dünnen weißen Kleid und einer weißen Blüte im Haar; Alma sagte, sie habe in dieser Pose reizend ausgesehen, ein zierliches Persönchen, strahlend vor Lebendigkeit und Energie - den Mund offen, einen Arm nach vorn gestreckt, während sie einen Vers deklamierte. Als Journalistin schrieb O'Fallon im Stil jener Zeit. Ihre Sätze waren präzis und pointiert, und ihr Talent, ihre Artikel mit witzigen Kommentaren und raffinierten Wortspielen zu würzen, machte sie bei der Zeitschrift bald zu einer

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