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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Als Alma fragte, ob ich eine Pille nehmen wolle, teilte ich ihr mit, dass ich diesmal kein Xanax nehmen würde. Wenn du mich an der Hand hältst, sagte ich, wird es schon gut gehen. Ich fühle mich bestens.
    Sie nahm meine Hand, und eine Weile knutschten wir vor den Augen der anderen Passagiere. Es war reine pubertäre Leidenschaft - wie ich sie in meiner Pubertät nie erlebt, mir aber immer gewünscht hatte -, und es war eine so neue Erfahrung, in der Öffentlichkeit eine Frau zu küssen, dass mir gar keine Zeit blieb, über die bevorstehende Tortur nachzudenken. Als wir an Bord gingen, rieb Alma mir den Lippenstift von der Wange, sodass ich kaum mitbekam, wie wir die Schwelle überschritten und einstiegen. Der Weg durch den Mittelgang machte mir keine Probleme, das Hinsetzen auch nicht. Ich empfand keine Unruhe, als ich den Gurt zuschnallen musste, und noch weniger, als die Motoren mit Vollgas aufheulten und die Vibrationen der Maschine sich auf meine Haut übertrugen. Wir saßen in der ersten Klasse. Auf der Speisekarte stand, dass es Hähnchen geben würde. Alma, die links von mir am Fenster saß - und mir daher wieder die rechte Seite zuwandte -, nahm meine Hand, hob sie an ihren Mund und küsste sie.
    Mein einziger Fehler war, dass ich die Augen zumachte. Als das Flugzeug vom Terminal zurücksetzte und dann die Startbahn hinunterrollte, wollte ich nicht mit ansehen, wie wir abhoben. Ich glaubte, das sei der gefährlichste Moment, und wenn ich den Übergang von der Erde zum Himmel überlebte, wenn ich einfach ignorierte, dass wir den Kontakt zum Boden verloren hatten, dann, so nahm ich an, hatte ich auch eine Chance, alles andere zu überleben. Aber es war ein Fehler, mich dem zu entziehen, ein Fehler, die Augen vor einem Ereignis zu verschließen, an dessen Realität doch kein Zweifel bestehen konnte. Es zu erleben wäre schmerzlich gewesen, aber viel schlimmer war es, mich von diesem Schmerz fern zu halten und mich in die Muschel meiner Gedanken zurückzuziehen. Die Welt der Gegenwart war weg. Da ich nichts sah, lenkte nichts mich ab und verhinderte, dass ich meinen Ängsten erlag, und je länger ich die Augen geschlossen hielt, desto fürchterlicher sah ich, was meine Ängste mich sehen lassen wollten. Ich hatte mir immer gewünscht, ich hätte mit Helen und den Jungen zusammen den Tod gefunden, aber ich hatte nie gewagt, mir vollständig auszumalen, was sie in den letzten Sekunden vor dem Aufprall des Flugzeugs durchgemacht haben mussten. Jetzt, mit geschlossenen Augen, hörte ich die Jungen kreischen, und ich sah Helen, die sie in den Armen hielt und ihnen sagte, ich liebe euch, ihnen im Geschrei der hundert-achtundvierzig anderen Menschen, die mit ihnen sterben würden, leise zuflüsterte, dass sie sie immer lieben würde, und als ich sie so mit den Jungen in ihren Armen vor mir sah, brach ich schluchzend zusammen. Genau wie ich es mir immer vorgestellt hatte, brach ich schluchzend zusammen.
    Ich nahm die Hände vors Gesicht und weinte unendlich lange in meine salzigen, stinkenden Handflächen, unfähig, den Kopf zu heben, unfähig, die Augen aufzumachen, unfähig, damit aufzuhören. Irgendwann spürte ich Almas Hand im Nacken. Ich wusste nicht, wie lange sie schon dort gewesen war, aber schließlich begann ich sie zu fühlen, und nach einer Weile merkte ich, dass ihre andere Hand zärtlich an meinem linken Arm auf und ab strich, ihn mit der gleichen sanften und rhythmischen Bewegung streichelte wie eine Mutter, die ihr trauriges Kind tröstet. Kaum war ich mir dieses Gedankens bewusst, oder eher der Tatsache, dass ich diesen Gedanken an Mutter und Kind beschworen hatte, stellte ich mir merkwürdigerweise vor, ich sei in Todds Körper geschlüpft, hätte mich meinem eigenen Sohn anverwandelt, und es sei nicht Alma, sondern Helen, die mich jetzt tröstete. Dieses Gefühl dauerte nur wenige Sekunden, aber es war außerordentlich stark, weniger ein Produkt der Phantasie als vielmehr etwas Reales, eine tatsächliche Verwandlung, die mich zu jemand anderem machte, und als es dann langsam verblasste, hatte ich das Schlimmste plötzlich hinter mir.

5
    Eine halbe Stunde später begann Alma zu erzählen. Inzwischen schwebten wir in sieben Meilen Höhe über irgendeinem namenlosen County in Pennsylvania oder Ohio, und sie erzählte weiter, bis wir in Albuquerque ankamen. Bei der Landung gab es eine kurze Unterbrechung, und die Fortsetzung der Geschichte folgte erst, als wir in ihr Auto gestiegen waren und die

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