Das Buch der Illusionen
Schlaflosigkeit kannte ich mich bestens aus, und bevor ich wach genug war, sie zu fragen, was sie in meinem Bett zu suchen habe, hielt ich sie schon in den Armen und küsste sie auf den Mund.
Kurz vor Mittag brachen wir auf. Alma wollte fahren, also hockte ich mich daneben und übernahm die Navigation, sagte ihr, wo sie abbiegen und welche Highways sie nehmen musste, um mit ihrem blauen Miet-Dodge nach Boston zu kommen. Das Gewitter hatte doch einige Spuren hinterlassen - abgerissene Zweige auf der Straße, nasses Laub, das auf Autodächern klebte, ein umgestürzter Fahnenmast in einem Vorgarten -, aber der Himmel war wieder klar, und wir fuhren den ganzen Weg zum Flughafen bei schönstem Sonnenschein.
Keiner von uns verlor ein Wort über das, was sich in der vergangenen Nacht in meinem Schlafzimmer abgespielt hatte. Das saß mit uns im Auto wie ein Geheimnis, wie etwas, das ins Reich kleiner Kammern und nächtlicher Gedanken gehörte und nicht dem Tageslicht ausgesetzt werden darf. Wer es erwähnte, lief Gefahr, es zu zerstören, daher beließen wir es bei gelegentlichen Seitenblicken, einem flüchtigen Lächeln, einer dem anderen behutsam aufs Knie gelegten Hand. Wie konnte ich mir anmaßen zu wissen, was Alma dachte? Ich war froh, dass sie zu mir ins Bett gekrochen war, und ich war froh, dass wir diese Stunden in der Dunkelheit zusammen verbracht hatten. Aber es war nur eine einzige Nacht gewesen, und ich hatte keine Ahnung, wie es mit uns weitergehen würde.
Als ich das letzte Mal zum Logan Airport gefahren war, hatten Helen, Todd und Marco bei mir im Auto gesessen. Den letzten Morgen ihres Lebens hatten sie auf derselben Straße verbracht, die jetzt Alma und ich benutzten. Etappe für Etappe hatten sie dieselbe Reise gemacht; Meile um Meile hatten sie dieselbe Strecke bewältigt. Von der Route 30 zur Interstate 91; von der 91 zum Mass Pike; vom Mass Pike zur 93; von der 93 zum Tunnel. Etwas in mir begrüßte diese groteske Neuinszenierung. Es kam mir vor wie eine raffiniert ersonnene Strafe, als hätten die Götter beschlossen, mir erst dann eine Zukunft zu gestatten, wenn ich noch einmal in die Vergangenheit zurückgekehrt wäre. Demnach war es nur gerecht, dass ich meinen ersten Morgen mit Alma genau so verbrachte, wie ich meinen letzten Morgen mit Helen verbracht hatte. Ich musste in ein Auto steigen und zum Flughafen fahren, und wir mussten das Tempolimit um zehn oder zwanzig Meilen überschreiten, um das Flugzeug nicht zu verpassen.
Die Jungen hatten sich auf der Rückbank gekabbelt, das wusste ich noch genau, und einmal hatte Todd ausgeholt und seinen kleinen Bruder auf den Arm geboxt. Helen hatte sich umgedreht und ihn ermahnt, er solle das lassen, einen Vierjährigen schlage man nicht, worauf unser Erstgeborener sich weinerlich beschwert hatte, M. habe damit angefangen und sei selber schuld, wenn er dafür Prügel kriege. Wenn jemand dich haut, sagte er, hast du das Recht, zurückzuhauen. Worauf ich erwiderte - und das war die letzte väterliche Ansprache meines Lebens -, niemand habe das Recht, einen Kleineren zu schlagen. Aber Marco wird immer kleiner sein als ich, sagte Todd. Dann kann ich ihn ja nie hauen. Tja, sagte ich, beeindruckt von der Logik seiner Schlussfolgerung, manchmal ist das Leben einfach nicht fair. Das war natürlich völlig idiotisch, und ich erinnerte mich, wie Helen laut aufgelacht hatte, als ich diese grässliche Banalität von mir gab. Sie vermittelte mir damit, dass von den vier Leuten, die an diesem Morgen im Auto saßen, Todd derjenige war, der über den schärfsten Verstand verfügte. Natürlich stimmte ich ihr zu. Sie alle waren klüger als ich, und ich glaubte nicht eine Sekunde daran, dass ich ihnen das Wasser reichen könnte.
Alma war eine gute Fahrerin. Ich sah ihr zu, wie sie immer wieder zwischen der linken und der mittleren Fahrspur hin und her wechselte und alles überholte, was vor ihr auftauchte, und einmal sagte ich: Du bist schön.
Das sagst du nur, weil du meine gute Seite siehst, antwortete sie. Wenn wir andersherum sitzen würden, würdest du das bestimmt nicht sagen.
Wolltest du deswegen selber fahren?
Das Auto ist auf meinen Namen gemietet. Also darf auch nur ich es fahren.
Und Eitelkeit hat nichts damit zu tun.
Lass mir Zeit, David. Es hat keinen Sinn, jetzt darauf herumzureiten. Das haben wir nicht nötig.
Es stört mich nicht, ehrlich. Ich gewöhne mich jetzt schon daran.
Ausgeschlossen. So schnell geht das nicht. Du kennst meinen Anblick noch
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