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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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verändert.
    Als Alma endlich wieder aufblickte, liefen ihr immer noch die Tränen über die Wangen. Ihr Make-up war verschmiert, schwarze Linien schlängelten sich mitten durch ihr Muttermal, und sie sah so fertig aus, so mitgenommen von der Katastrophe, in die sie selbst sich gestürzt hatte, dass ich beinahe Mitleid mit ihr empfand.
    Gehen Sie sich waschen, sagte ich. Sie sehen furchtbar aus.
    Es rührte mich, dass sie nichts sagte. Immerhin war sie eine Frau, die an Worte glaubte, die ihrer Fähigkeit vertraute, sich aus jeder Klemme herausreden zu können, doch als ich ihr diese Anweisung gab, stand sie einfach schweigend vom Sofa auf und tat, was ich ihr gesagt hatte. Nur die schwache Spur eines Lächelns, ein kaum merkliches Schulterzucken. Sie ging zum Badezimmer, und da erst merkte ich, wie sehr sie geschlagen war, wie gedemütigt von dem, was sie getan hatte. Ich fand den Anblick, wie sie aus dem Zimmer ging, unerklärlich bewegend. Das gab meinen Gedanken irgendwie eine andere Richtung, und in diesem ersten Aufblitzen von Mitgefühl und Sympathie fasste ich einen völlig unerwarteten Entschluss. Und soweit solche Dinge überhaupt messbar sind, glaube ich, dass dieser Entschluss der Anfang der Geschichte war, die ich jetzt zu erzählen versuche.
    Während sie weg war, ging ich in die Küche und suchte nach einem Versteck für den Revolver. Nachdem ich die Schränke über der Spüle auf- und zugemacht und in mehreren Schubladen und Aludosen herumgewühlt hatte, entschied ich mich für das Gefrierfach des Kühlschranks. Das war meine erste Erfahrung mit einer Waffe, und da ich mir nicht sicher war, ob ich sie entladen konnte, ohne noch mehr Unheil anzurichten, öffnete ich das Gefrierfach und verstaute sie mitsamt ihrer tödlichen Ladung unter einer Tüte mit Hühnerklein und einer Schachtel Ravioli. Ich wollte das Ding nur verschwinden lassen. Als ich aber die Klappe geschlossen hatte, wurde mir klar, dass ich keinen großen Drang verspürte, es wirklich loszuwerden. Nicht dass ich irgendwelche Pläne hatte, es jemals zu benutzen, aber mir gefiel die Vorstellung, es in der Nähe zu haben, und bis mir ein besserer Platz dafür einfiele, würde ich es im Gefrierfach lassen. Bei jedem Öffnen der Klappe würde ich daran denken, was ich in dieser Nacht erlebt hatte. Der Revolver wäre mein heimliches Andenken, ein Denkmal für meine Begegnung mit dem Tod.
    Sie ließ sich viel Zeit im Bad. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, und statt herumzusitzen und auf sie zu warten, räumte ich lieber das Chaos in meinem Wagen auf und trug die Lebensmittel ins Haus. Das dauerte nicht ganz zehn Minuten. Als ich die Sachen in der Küche verstaut hatte, war Alma immer noch im Badezimmer. Ich trat an die Tür und horchte hinein, denn allmählich begann ich mir Sorgen zu machen, ob sie nicht etwa reingegangen wäre, um irgendeine überstürzte Dummheit zu machen. Bevor ich aus dem Haus gegangen war, hatte ich deutlich Wasser ins Becken laufen hören, beide Hähne voll aufgedreht; und als ich auf dem Weg nach draußen an der Tür vorbeigekommen war, hatte ich in dem Rauschen auch ihr Schluchzen gehört. Jetzt lief das Wasser nicht mehr, und es war überhaupt nichts zu hören. Das konnte bedeuten, dass ihr Weinkrampf vorbei war, dass sie sich ruhig die Haare bürstete und neues Make-up auftrug. Es konnte aber auch bedeuten, dass sie reglos am Boden lag, niedergestreckt von zwanzig Xanax im Magen.
    Ich klopfte an. Als sie nicht antwortete, klopfte ich noch einmal und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie komme gleich, sagte sie, nur noch eine Minute, und nach einer langen Pause fügte sie mit einer Stimme, die nach Atem zu ringen schien, hinzu, der ganze Mist, der da passiert sei, tue ihr Leid, sehr Leid. Lieber würde sie sterben, als das Haus zu verlassen, bevor ich ihr verziehen hätte, sagte sie, sie flehe mich an, ihr zu verzeihen, aber auch wenn ich das nicht über mich bringen könne, werde sie jetzt gehen, so oder so, sie gehe jetzt, sie werde mir nicht noch einmal zu nahe treten.
    Ich blieb vor der Tür und wartete. Als sie herauskam, waren ihre Augen so rot und verquollen wie bei jedem, der lange geweint hat, aber ihre Frisur war wieder in Ordnung, und
    Puder und Lippenstift übertünchten mehr oder weniger die hektischen Flecken. Sie wollte an mir vorbei, aber ich streckte die Hand aus und hielt sie auf.
    Es ist nach zwei, sagte ich. Wir sind beide erschöpft, wir brauchen etwas Schlaf. Sie können mein Bett

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