Das Buch der Illusionen
mich ansahen, sahen sie mir direkt in die Seele hinein. Ich war kein hässliches Mädchen - das war mir klar -, aber ich wusste auch, dass dieser violette Klecks in meinem Gesicht immer mit mir identisch sein würde. Es hatte keinen Sinn zu versuchen, ihn loszuwerden. Er war die zentrale Tatsache meines Lebens, und statt ihn wegzuwünschen, hätte ich ebenso gut mich selbst wegwünschen können. Die Erfahrung normalen Glücks blieb mir für immer verschlossen, aber nachdem ich diese Geschichte gelesen hatte, erkannte ich, dass ich etwas beinahe genauso Gutes besaß. Ich wusste, was die Leute dachten. Ich brauchte sie mir nur anzusehen, ihre Reaktion zu studieren, wenn sie meine linke Gesichtshälfte erblickten, und schon wusste ich, ob ich ihnen trauen konnte oder nicht. Das Muttermal war der Prüfstein für ihre Menschlichkeit. Es zeigte den Wert ihrer Seelen an, und wenn ich mir nur Mühe gab, konnte ich in sie hineinsehen und erkennen, wer sie waren. Mit sechzehn, siebzehn war ich so feinhörig wie eine Stimmgabel. Was nicht bedeutet, dass ich mich nicht in manchen Menschen getäuscht habe, aber meistens lag ich richtig. Ich habe einfach nicht mehr damit aufhören können.
Wie gestern Abend.
Nein, nicht wie gestern Abend. Da habe ich mich nicht getäuscht.
Wir haben uns beinahe gegenseitig umgebracht.
Das musste so sein. Wenn einem die Zeit davonläuft, beschleunigt sich alles. Uns förmlich miteinander bekannt zu machen, uns die Hand zu geben und bei einem Drink einen gepflegten Plausch zu führen - diesen Luxus haben wir uns nicht leisten können. Es musste mit Gewalt geschehen. Wie zwei Planeten, die am Rand des Weltalls kollidieren.
Sag nicht, du hättest keine Angst gehabt.
Ich hatte Todesangst. Aber ich bin nicht blind da hineingestolpert. Ich musste auf alles gefasst sein.
Man hat dir erzählt, ich sei verrückt, oder?
Dieses Wort hat niemand benutzt. Der stärkste Ausdruck, den ich gehört habe, war Nervenzusammenbruch.
Was hat deine Stimmgabel gesagt, als du dorthin gekommen bist?
Du kennst die Antwort bereits.
Du warst erschrocken, stimmt's? Ich habe dich zu Tode erschreckt.
Es war mehr als das. Ich hatte Angst, zugleich aber war ich erregt, ich habe geradezu gezittert vor Glück. Ich habe dich angesehen, und ein paar Sekunden lang war es so, als ob ich mich selbst ansehen würde. Das ist mir noch nie passiert.
Es hat dir gefallen.
Ja, sehr. Ich war so entgeistert, dass ich dachte, ich würde zerspringen.
Und jetzt traust du mir.
Du wirst mich nicht enttäuschen. Und ich werde dich nicht enttäuschen. Das wissen wir beide.
Was wissen wir sonst noch?
Nichts. Deshalb sitzen wir ja jetzt hier zusammen in diesem Auto. Weil wir identisch sind, und weil wir darüber hinaus noch rein gar nichts wissen.
Wir schafften den Vier-Uhr-Flug nach Albuquerque und hatten sogar noch zwanzig Minuten Zeit. Idealerweise hätte ich mein Xanax schon in Holyoke oder Springfield nehmen sollen, spätestens in Worcester, aber ich war zu sehr in das Gespräch mit Alma vertieft, und um es nicht unterbrechen zu müssen, verschob ich die Sache immer wieder. Als wir an den Abfahrtsschildern zur 495 vorbeifuhren, wurde mir klar, dass es keinen Sinn hatte, die Pillen jetzt noch zu nehmen. Sie waren in Almas Tasche, aber sie hatte die Gebrauchshinweise nicht gelesen. Sie wusste nicht, dass sie ein oder zwei Stunden im Voraus geschluckt werden mussten, um ihre Wirkung zu entfalten.
Zuerst war ich froh, dass ich nicht nachgegeben hatte. Jeder Krüppel zittert bei der Vorstellung, seine Krücke fortzuwerfen, aber wenn ich den Flug überstand, ohne einen Heulkrampf oder einen Tobsuchtsanfall zu bekommen, wäre das am Ende vielleicht sogar ein Vorteil für mich. Dieser Gedanke half mir über weitere zwanzig, dreißig Minuten hinweg. Als wir uns dann den Außenbezirken von
Boston näherten, war klar, dass ich keine Wahl mehr hatte. Wir fuhren schon seit über drei Stunden, und von Hector hatten wir immer noch nicht gesprochen. Ich hatte angenommen, das würden wir im Auto tun, aber dann hatten wir nur über andere Dinge geredet, Dinge, über die zweifellos zuerst geredet werden musste, Dinge, die nicht weniger wichtig waren als das, was uns in New Mexico erwartete, und ehe ich mich versah, war die erste Etappe der Reise fast vorbei. Ich konnte jetzt nicht neben ihr einschlafen. Ich musste wach bleiben und mir die Geschichte anhören, die sie mir versprochen hatte.
Wir setzten uns in die Nähe des Ausgangs der Abflughalle.
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