Das Buch der Illusionen
und fuhren zum Hotel, wo sie ein paar Stunden schlafen wollten, ehe am nächsten Nachmittag ihr Zug nach Chicago ging. Soeben hatten sie für ihre Arbeit ein Rekordhonorar erhalten: eintausend Dollar für eine einzige Vorstellung von vierzig Minuten Länge. Hectors Anteil hätte vierhundert Dollar betragen sollen, doch als Sylvia das Geld des Reifenkönigs abzählte, gab sie ihrem Partner nur zweihundertfünfzig.
Das sind fünfundzwanzig Prozent, sagte Hector. Du schuldest mir noch fünfzehn.
Das sehe ich anders, erwiderte Meers. Mehr kriegst du nicht, Herm, und ich an deiner Stelle würde mich damit zufriedengeben.
Ach ja? Und bei wem oder was darf ich mich für diesen plötzlichen Wandel der Fiskalpolitik bedanken, meine liebe Sylvia?
Politik? Was soll das, Mann? Es geht um Geld. Ich hab da so Sachen mitgekriegt, und wenn ich das nicht in der ganzen Stadt rumerzählen soll, bleibt's bei den fünfundzwanzig. Keine vierzig mehr. Die Zeiten sind vorbei.
Du vögelst fantastisch, Kleine. Von Sex verstehst du mehr als jede andere Frau, die ich kenne, aber im Oberstübchen hast du gewaltige Defizite. Du willst einen neuen Vertrag aushandeln. Gut. Darüber lässt sich reden. Aber du kannst die Regeln nicht einfach ändern, ohne mich vorher zu fragen.
Okay, Mister Hollywood. Dann lass ab jetzt die Maske weg. Wenn du das tust, überleg ich's mir vielleicht noch mal.
Verstehe. Darauf willst du also hinaus.
Wer sein Gesicht nicht zeigen will, der hat ein Geheimnis, stimmt's? Und wenn ein Mädchen rausfindet, was das für ein Geheimnis ist, sind die Karten neu gemischt. Ich habe einen Vertrag mit Herm gemacht. Aber es gibt gar keinen Herm. Bloß einen Hector, und deshalb müssen wir die Sache noch mal von vorne anfangen.
Von ihm aus konnte sie die Sache so oft von vorne anfangen, wie sie wollte, aber nicht mit ihm. Als die Limousine wenige Sekunden später vor dem Hotel Cuyahoga vorfuhr, sagte Hector, sie könnten ihr Gespräch am nächsten Morgen fortsetzen. Er wolle erst einmal darüber schlafen, sagte er, ein wenig nachdenken, bevor er sich entscheide, doch würden sie bestimmt eine Lösung finden, mit der sie beide zufrieden sein könnten. Dann gab er ihr einen Handkuss, wie immer, wenn er sich nach einer Vorstellung von ihr verabschiedete - eine halb spöttische, halb ritterliche Geste, die zu ihrem üblichen Abschiedsgruß geworden war. Aus dem triumphierenden Grinsen, das sich auf Sylvias Zügen ausbreitete, als er ihre Hand an seinen Mund hob, zog Hector den Schluss, dass sie nicht einmal ahnte, was sie angerichtet hatte. Sie hatte ihn nicht erpresst, ihr einen größeren Anteil des Profits zu überlassen - sie hatte ihr gemeinsames Unternehmen aufgelöst.
Er ging auf sein Zimmer im siebenten Stock, und dann stand er zwanzig Minuten lang vor dem Spiegel und presste sich den Lauf des Revolvers an die rechte Schläfe. Er war kurz davor, wirklich abzudrücken, sagte Alma, näher daran als bei den zwei früheren Malen, aber wieder fehlte ihm die letzte Entschlusskraft, und schließlich legte er die Waffe auf den Tisch und verließ das Hotel. Es war halb fünf Uhr morgens. Er ging zu Fuß zwölf Blocks nach Norden zum Greyhound-Busbahnhof und kaufte eine Fahrkarte für den nächsten Bus - beziehungsweise den übernächsten. Der um sechs Uhr fuhr nach Youngstown und anderen Städten im Osten, und der um sechs Uhr fünf ging in die entgegengesetzte Richtung. Der neunte Halt dieses Letzteren war Sandusky. Das war die Stadt, in der er nie seine Kindheit verbracht hatte, und als er sich daran erinnerte, wie schön ihm der Name einst vorgekommen war, beschloss er, dorthin zu fahren - nur um zu sehen, wie seine imaginäre Vergangenheit in Wirklichkeit aussah.
Es war der Morgen des 21. Dezember 1931. Sandusky war sechzig Meilen entfernt, und er schlief fast die ganze Zeit und wachte erst auf, als der Bus nach zweieinhalb Stunden sein Ziel erreichte. Hector hatte etwas mehr als dreihundert Dollar in der Tasche: die zweihundertfünfzig von Meers, fünfzig, die er am Zwanzigsten vor der Abreise aus Chicago eingesteckt hatte, und das Wechselgeld von dem Zehner, den er für die Busfahrkarte angebrochen hatte. Er ging in den Bahnhofsimbiss und bestellte das Spezialfrühstück: Schinken und Ei, Toast, Bratkartoffeln, Orangensaft und Kaffee bis zum Abwinken. Als er bei der dritten Tasse war, fragte er den Mann hinter dem Tresen, ob es in der Stadt irgendwelche Sehenswürdigkeiten gebe. Er sei nur auf der Durchreise, sagte er, und
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