Das Buch der Illusionen
mich, Baby. Ich bin völlig von Sinnen, von Sinnen vor Freude.
Sechs Tage später gaben Hector und Sylvia ihre erste öffentliche Vorstellung. Nach Almas Berechnung haben sie zwischen diesem ersten Auftritt Anfang Juni und ihrer letzten Show Mitte Dezember siebenundvierzig Mal auf der Bühne agiert. Meist arbeiteten sie in Chicago und Umgebung, aber sie wurden auch für entferntere Städte wie Minneapolis, Detroit und Cleveland gebucht. Veranstaltungsorte waren Nachtclubs und Hotelsuiten, Lagerhallen und Bordelle, Bürogebäude und Privathäuser. Ihren größten Auftritt hatten sie vor ungefähr hundert Zuschauern (auf einer Bruderschaftsparty in Normal, Illinois), ihren kleinsten vor einem einzigen (der sie dann noch weitere zehnmal kommen ließ). Die Art der Darbietung richtete sich nach den jeweiligen Wünschen der Kundschaft. Manchmal führten Hector und Sylvia kleine Theaterstücke mit Kostümen und Dialogen auf, manchmal kamen sie einfach nackt herein und vögelten wortlos. Die Aufführungen basierten auf ganz banalen erotischen Tagträumen und funktionierten am besten vor kleinen bis mittelgroßen Zuschauerzahlen. Am beliebtesten war die Krankenschwester-Patient-Nummer. Die Leute sahen es offenbar gern, wenn Sylvia ihren gestärkten weißen Kittel auszog, und applaudierten immer, wenn sie anfing, Hector aus den Mullbinden zu wickeln. Auf dem Programm standen auch der Beichtstuhl-Skandal (der damit endete, dass der Priester die Nonne vergewaltigte) und die kompliziertere Geschichte der beiden Freidenker, die sich im vorrevolutionären Frankreich auf einem Maskenball begegnen. Die Zuschauer waren fast ausschließlich Männer. Auf den größeren Veranstaltungen (Junggesellenpartys, Geburtstagsfeiern) ging es gewöhnlich eher lautstark zu, während die kleineren Gruppen sich meist vollkommen still verhielten. Bankiers und Rechtsanwälte, Geschäftsleute und Politiker, Sportler, Börsenmakler und reiche Müßiggänger: Sie alle schauten ihnen gebannt zu. Nicht selten knöpften mindestens zwei oder drei von ihnen ihre Hosen auf und begannen zu masturbieren. Ein Ehepaar aus Fort Wayne, Indiana, das sich das Duo für eine Privatvorstellung nach Hause bestellt hatte, ging so weit, sich während der Nummer zu entkleiden und es selbst miteinander zu treiben. Meers hatte recht gehabt, stellte Hector fest. Wer sich traute, den Leuten zu geben, was sie wollten, konnte gutes Geld damit verdienen.
Er mietete ein kleines Apartment an der North Side, und von jedem Dollar, den er einnahm, spendete er fünfundsiebzig Cent für gute Zwecke. Er steckte Zehn- und Zwanzigdollarscheine in den Opferstock der Kirche Saint Anthony's, schickte anonyme Spenden an die Congregation B'nai Avraham und verteilte ungezählte Münzen an die blinden und verkrüppelten Bettler in den Straßen seines Wohnviertels. Siebenundvierzig Aufführungen, das waren im Durchschnitt knapp zwei pro Woche. Also blieben fünf freie Tage, die Hector meist allein in seinem Zimmer mit Lesen verbrachte. Seine Welt war gespalten, sagte Alma, Körper und Geist sprachen nicht mehr miteinander. Er war Exhibitionist und Einsiedler, rasender Wüstling und einsamer Mönch, und wenn es ihm gelang, diese inneren Widersprüche so lange zu überleben, dann nur, weil er seinen Geist willentlich ausschaltete. Kein Ringen mehr um anständiges Betragen, kein geheuchelter Glaube mehr an die Tugend der Selbstverleugnung. Jetzt hatte sein Körper das Kommando, und je weniger er darüber nachdachte, was sein Körper tat, mit desto mehr Erfolg konnte er es tun. Alma bemerkte, dass er in dieser Phase aufgehört habe, Tagebuch zu führen. Die einzigen Einträge waren trockene kurze Notizen, in denen Zeiten und Orte seiner Auftritte mit Sylvia verzeichnet waren - anderthalb Seiten in sechs Monaten. Sie hielt das für ein Zeichen, dass er Angst davor hatte, sich selbst zu betrachten, dass er sich verhielt wie jemand, der alle Spiegel in seinem Haus verhängt hat.
Schwierigkeiten hatte er nur beim ersten Mal, das heißt kurz vor dem ersten Mal, als er noch nicht wusste, ob er diesem Job überhaupt gewachsen war. Zum Glück fand der erste Auftritt, den Sylvia gebucht hatte, vor nur einem Zuschauer statt. Das machte die Sache irgendwie erträglich -gewissermaßen privat vor die Öffentlichkeit treten, nur von einem einzigen Augenpaar beobachtet, und nicht von zwanzig, fünfzig oder hundert. In diesem Fall gehörten die Augen Archibald Pierson, einem siebzigjährigen pensionierten Richter,
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