Das Buch der Illusionen
entscheidende Treffer war ihm gelungen, als Knox gerade zur Tür hinausschlüpfen wollte -, doch was sie am meisten interessierte, war Hectors Tapferkeit, die sie als den größten Beweis von Mut rühmten, den man seit vielen Jahren in dieser Gegend vorgeführt bekommen habe. Die Frau war praktisch schon tot, wurde ein Augenzeuge zitiert. Wenn dieser Kerl den Stier nicht bei den Hörnern gepackt hätte - schrecklicher Gedanke, was dann aus ihr geworden wäre. Die Frau war Frieda Spelling, zweiundzwanzig Jahre alt, verschiedentlich bezeichnet als Malerin, als Absolventin des Bernard College (sic) und als Tochter des verstorbenen prominenten Bankiers und Menschenfreunds Thaddeus P. Spelling aus Sandusky. In jedem einzelnen Artikel dankte sie dem Mann, der ihr das Leben gerettet hatte. Sie habe solche Angst gehabt, erzählte sie, sie habe schon mit ihrem Leben abgeschlossen. Sie bete zu Gott, dass er von seiner Verletzung genesen werde.
Die Familie Spelling erbot sich, die Behandlungskosten zu übernehmen, doch in den ersten zweiundsiebzig Stunden schien es zweifelhaft, dass er überhaupt durchkommen würde. Er wurde bewusstlos in die Klinik eingeliefert, und angesichts der Schwere seiner Verletzung und des starken Blutverlusts sah man nur geringe Chancen, dass er den Schock und das Infektionsrisiko überstehen und lebend das Krankenhaus verlassen könnte. Die Ärzte entfernten den zerstörten linken Lungenflügel, operierten Metallsplitter heraus, die ins Gewebe um sein Herz gedrungen waren, und nähten ihn dann wieder zu. So oder so, Hector hatte seine Kugel gefunden. Er habe nicht gewollt, dass es so geschähe, sagte Alma, aber was er nicht selbst habe tun können, habe jemand anderes für ihn erledigt. Das einzig Dumme daran war, dass Knox die Sache verpfuscht hatte. Hector starb nicht an seiner Begegnung mit dem Tod. Er legte sich bloß schlafen, und als er nach einem langen Nickerchen aufwachte, hatte er vergessen, dass er sich hatte umbringen wollen. Zu fürchterlich waren die Schmerzen, als dass er über etwas so Kompliziertes hätte nachdenken können. Sein Inneres brannte wie Feuer, und seine Gedanken kreisten ausschließlich um die Frage, wie er den nächsten Atemzug tun, wie er weiteratmen konnte, ohne in Flammen aufzugehen.
Am Anfang hatten sie nur eine sehr nebelhafte Vorstellung davon, wer er war. Sie leerten seine Taschen und untersuchten den Inhalt seiner Brieftasche, fanden aber nichts, keinen Führerschein, keinen Pass, keinerlei Ausweispapiere irgendwelcher Art. Das Einzige, worauf ein Name stand, war eine Mitgliedskarte der North-Side-Filiale der Stadtbücherei von Chicago. H. Loesser stand darauf, aber weder Adresse noch Telefonnummer, nichts, was einen Hinweis auf seinen Wohnort lieferte. Die Zeitungen berichteten nach der Schießerei, die Polizei von Sandusky unternehme alles Menschenmögliche, um mehr über ihn in Erfahrung zu bringen.
Aber Frieda wusste, wer er war - zumindest glaubte sie, es zu wissen. Sie war in New York aufs College gegangen, und als neunzehnjährige Studentin war es ihr 1928 gelungen, sechs oder sieben der zwölf Stummfilmkomödien von
Hector Mann zu sehen. Nicht dass sie sonderlich an Slapstick interessiert gewesen wäre, aber seine Filme waren zusammen mit anderen Filmen gelaufen, zusammen mit Zeichentrickfilmen und Wochenschauen, die vor dem Hauptfilm gezeigt wurden, und so war ihr sein Aussehen so vertraut geworden, dass sie ihn jederzeit und überall erkannt hätte. Als sie Hector dann drei Jahre später in der Bank erblickte, war sie vorübergehend verwirrt, weil er den Schnurrbart nicht mehr trug. Sie erkannte sein Gesicht, vermochte aber keinen Namen damit in Verbindung zu bringen, und ehe sie darauf kam, wer dieser Mann war, tauchte Knox hinter ihr auf und hielt ihr die Pistole an den Kopf. Vierundzwanzig Stunden vergingen, ehe sie wieder darüber nachdenken konnte, aber als sich der Schrecken über den um Haaresbreite verpassten Tod allmählich zu legen begann, fand sie auf einmal und mit überwältigender Gewissheit die Lösung. Unwichtig, dass der Mann angeblich Loesser hieß. 1929 hatte sie die Meldungen über Hectors Verschwinden verfolgt, und wenn er nicht, wie die meisten anzunehmen schienen, tot war, dann musste er unter irgendeinem anderen Namen leben. Unverständlich war nur, dass er ausgerechnet in Sandusky, Ohio, aufgetaucht war; andererseits war vieles im Leben unverständlich, und wenn die Naturgesetze verlangten, dass jeder Mensch auf der Welt
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