Das Buch der Illusionen
eintrat - als das Spektakel von Verben, das sich nun keine drei Meter vor dem Sessel des Richters zu entfalten begann.
Falls der alte Mann das Schauspiel genoss, war ihm zumindest äußerlich nichts davon anzumerken. Zweimal während der Vorstellung erhob er sich und legte eine andere Platte auf, doch abgesehen von diesen kurzen, mechanischen Unterbrechungen verharrte er die ganze Zeit in derselben Haltung auf seinem Lederthron, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände im Schoß. Er berührte sich nicht, er knöpfte nicht seine Hose auf, er lächelte nicht, er gab keinen Ton von sich. Nur ganz am Ende, in dem Augenblick, als Hector sich aus Sylvia herauszog und die gewünschte Eruption hervorrief, schien ein leises, bebendes Geräusch aus des Richters Kehle zu kommen. Fast wie ein Schluchzen, dachte Hector - und dann noch einmal, kaum merklich.
Das war das erste Mal, sagte Alma, aber es gab auch das fünfte und das elfte und das achtzehnte Mal und noch sechs weitere Male. Pierson wurde ihr treuester Kunde, und immer wieder kehrten sie zu seinem Haus in Highland Park zurück, um sich auf dem Teppich zu wälzen und ihr Geld einzustreichen. Nichts machte Sylvia glücklicher als dieses Geld, erkannte Hector, und binnen zweier Monate hatte sie mit dieser Nummer so viel verdient, dass sie es nicht mehr nötig hatte, ihre Dienste im White House Hotel anzupreisen. Nicht alles wanderte in ihre eigene Tasche, aber auch nachdem sie dem Mann, den sie ihren Beschützer nannte, fünfzig Prozent abgegeben hatte, waren ihre Einnahmen noch zwei- oder dreimal so hoch wie vorher. Sylvia war eine ungebildete Landpomeranze, eine nahezu analphabetische Banausin, deren mündliche Ausdrucksweise von doppelten Verneinungen und absurden Wortverwechslungen wimmelte, aber wenn es um Geschäfte ging, bewies sie einen durchaus klaren Verstand. Sie war es, die die Engagements besorgte, die mit den Kunden verhandelte und sich um die praktischen Dinge kümmerte: Hin- und Rück-fahrt zu den jeweiligen Auftrittsorten, Ausleihen von Kostümen, Organisieren neuer Aufträge. Mit solchen Details brauchte Hector sich nicht abzugeben. Sylvia teilte ihm telefonisch mit, wann und wo sie das nächste Mal aufzutreten hätten, und dann brauchte er nur noch darauf zu warten, dass sie ihn mit dem Taxi von seiner Wohnung abholte. Das waren die stillschweigenden Regeln, die Grenzen ihrer Beziehung. Sie arbeiteten zusammen, sie trieben es miteinander, sie verdienten gemeinsam Geld, aber sie machten sich nie die Mühe, Freunde zu werden, und bis auf die wenigen Male, wenn sie eine neue Nummer einstudieren mussten, sahen sie sich nur bei ihren Vorstellungen.
Hector fühlte sich die ganze Zeit gut bei ihr aufgehoben. Sie stellte keine Fragen, sie schnüffelte nicht in seiner Vergangenheit, und in den sechseinhalb Monaten ihrer gemeinsamen Arbeit sah er sie niemals einen Blick in irgendeine Zeitung werfen, geschweige denn, dass sie jemals über aktuelle Neuigkeiten gesprochen hätte. Einmal wagte er eine undeutliche Anspielung auf diesen Stummfilmkomiker, der vor ein paar Jahren plötzlich verschwunden sei. Wie hieß er noch gleich?, fragte er und schnippte mit den Fingern, als käme er nicht auf den Namen, aber als Sylvia nur mit ihrem typischen leeren, gleichgültigen Blick reagierte, nahm Hector an, dass ihr der Fall gar nicht bekannt war. Irgendwann jedoch musste jemand mit ihr geredet haben. Hector hat nie erfahren, wer das war, vermutete aber, es müsse Sylvias Freund gewesen sein - Biggie Lowe, ihr sogenannter Beschützer, ein Kerl von zweieinhalb Zentnern, der in den Tanzbars von Chicago als Rausschmeißer angefangen hatte und jetzt als Nachtportier im White House Hotel arbeitete. Vielleicht hatte Biggie ihr den Floh ins Ohr gesetzt, ihr von schnellem Geld und idiotensicheren
Erpressungsplänen erzählt; vielleicht war Sylvia auch von selbst auf die Idee gekommen, Hector um ein paar zusätzliche Dollar zu erleichtern. So oder so, ihre Habgier gewann die Oberhand, und als Hector schließlich dahinter kam, was sie im Schilde führte, blieb ihm nur noch die Flucht.
Es geschah in Cleveland, knapp eine Woche vor Weihnachten. Sie waren mit dem Zug zu einem wohlhabenden Reifenhersteller gefahren, hatten vor drei Dutzend Männern und Frauen (die sich im Haus des Industriellen versammelt hatten, um an einer halbjährlichen Privatorgie teilzunehmen) ihre Nummer als französische Freigeister absolviert, und jetzt saßen sie im Fond der Limousine ihres Gastgebers
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