Das Buch der Illusionen
wer er war, würde sie keine dreißig Sekunden mehr brauchen, bis sie es wusste.
Das war ihm in den vergangenen drei Jahren mehrmals passiert, und jedes Mal war es ihm gelungen, sich rechtzeitig zu verziehen, ehe sein Gegenüber ihm Fragen stellen konnte. Gerade als er dies wieder einmal tun wollte, brach in der Bank plötzlich die Hölle los. Die junge Frau stand in der dem Eingang nächsten Schlange, und da sie sich halb zu Hector umgedreht hatte, bekam sie nicht mit, dass die Tür hinter ihr aufgegangen und ein Mann mit einem rot-weißen Tuch vor dem Gesicht hineingestürmt war. Er trug in einer Hand einen leeren Matchbeutel und in der anderen eine geladene Pistole. Es war leicht zu erkennen, dass die Pistole geladen war, sagte Alma, weil der Bankräuber gleich als Erstes einen Schuss an die Decke feuerte. Auf den Boden, schrie er, alles auf den Boden, und während die verängstigten Kunden taten, was der Mann ihnen sagte, packte er sich den Erstbesten, den er kriegen konnte. Es war alles eine Sache von Ordnung, von Struktur, Topografie. Die junge Frau links von Hector stand dem Eingang am nächsten, und daher war sie es, die der Mann sich schnappte, die plötzlich die Pistole an der Schläfe hatte. Keiner bewegt sich, sagte der Mann, keiner bewegt sich, oder ich puste der Kleinen hier das Hirn aus dem Schädel. Er riss sie mit einem brutalen Griff vom Boden hoch und stieß und zerrte sie zu den Kassenschaltern. Den linken Arm hatte er ihr von hinten um die Schultern geschlungen, der Matchbeutel baumelte an seiner geballten Faust, und seine Augen über dem Tuch flackerten in heller Panik. Nicht dass Hector eine bewusste Entscheidung getroffen hätte, was nun zu tun sei, aber kaum hatte sein Knie den Boden berührt, stand er auch schon wieder auf. Er hatte nicht vor, den Helden zu spielen, und ganz gewiss hatte er nicht vor, sich umbringen zu lassen, aber was auch immer er in diesem Augenblick empfunden haben mag, Angst war es jedenfalls nicht. Wut vielleicht, und keine geringe Sorge, dass er das Mädchen in Gefahr bringen könnte, aber keinerlei Angst um sich selbst. Wesentlich war, aus welcher Richtung er angriff. Wenn er einmal angefangen hätte, bliebe keine Zeit mehr, innezuhalten oder die Richtung zu ändern, aber wenn er mit vollem Tempo auf den Mann losstürzte und ihn von rechts attackierte - von der Matchbeutel-Seite - könne es nicht ausbleiben, dass der Mann, um die Waffe auf ihn zu richten, sich von dem Mädchen abwenden musste. Das war die einzige natürliche Reaktion. Wenn man aus heiterem Himmel von einem wilden Tier angegriffen wird, vergisst man alles andere.
So weit konnte Hector die Geschichte selbst erzählen, sagte Alma. Er konnte über alles berichten, was bis zu diesem Augenblick geschehen war, aber von da an erinnerte er sich an nichts mehr: nicht mehr an den Schuss, der sich aus der Waffe löste; nicht mehr an die Kugel, die ihm in die Brust schlug und ihn zu Boden warf; nicht mehr an Frieda, wie sie sich von dem Mann losriss. Frieda konnte von ihrer Position aus besser beobachten, was sich da abspielte, doch da sie so damit beschäftigt war, sich dem Griff des Mannes zu entwinden, bekam auch sie manche der folgenden Ereignisse nicht mit. Sie sah Hector zu Boden sinken, sie sah das Loch in seinem Mantel und das Blut, das daraus hervorspritzte, aber den Mann verlor sie aus den Augen und sah deshalb auch nicht, dass er die Flucht ergriff. Der Schuss hallte ihr noch in den Ohren, und bei dem Geschrei und Geheul so vieler Menschen um sie her hörte sie auch nichts von den drei Schüssen, die der Bankwächter dem Mann in den Rücken feuerte.
Sicher waren sich beide jedoch über das Datum. Das hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, und als Alma die Mikrofilm-Archive des Sanduskj Evening Herald, des Cleveland Plain Dealer und mehrerer anderer längst eingegangener oder noch existierender Lokalzeitungen besuchte, konnte sie sich den Rest der Geschichte selbst zusammensetzen. BLUTBAD AUF DER COLUMBUS AVENUE, BANKRÄUBER BEI SCHIESSEREI GETÖTET, HELD INS KRANKENHAUS GEBRACHT, lauteten einige der Schlagzeilen. Der Mann, der Hector beinahe getötet hätte, war ein gewisser Darryl Knox, alias Nutso Knox, ein siebenundzwanzigjähriger ehemaliger Automechaniker, der wegen einer Serie von Banküberfällen und bewaffneten Raubüberfällen in vier Bundesstaaten gesucht wurde. Die Journalisten feierten sämtlich sein Ableben, priesen die Präzision des Wächters im Umgang mit seiner Waffe - der
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