Das Buch der Schatten 1 - Verwandlung
meinen Sicherheitsgurt und sprang aus dem Auto. »Vielen Dank fürs Mitnehmen, Bree.« Ich knallte die Tür so fest wie möglich zu. Bree bretterte davon, wendete zwanzig Meter weiter mit quietschenden Reifen und sauste auf dem Weg zu Matt an mir vorbei. Ich stand allein am Straßenrand, verletzt und zitternd vor Wut.
In den elf Jahren, seit Bree und ich beste Freundinnen waren, hatten wir unsere Aufs und Abs gehabt. In der ersten Klasse hatte sie drei Schokoladenplätzchen in ihrem Lunchpaket gehabt und ich zwei Müsliriegel. Sie hatte ihre Schokoladenkekse nicht gegen meine Müsliriegel eintauschen wollen und ich hatte sie mir einfach geschnappt und in den Mund gestopft. Ich wusste nicht, wer entsetzter gewesen war, sie oder ich. Wir hatten eine ganze quälend lange Woche nicht miteinander geredet, uns aber wieder vertragen, als ich ihr sechs Bögen selbst gemachten Briefpapiers schenkte, die ich alle eigenhändig mit dem Monogramm B in verschiedenen Farben verschönert hatte.
In der sechsten Klasse wollte sie in der Mathearbeit bei mir abschreiben und ich ließ sie nicht. Dieses Mal sprachen wir zwei Tage nicht miteinander. Sie schrieb bei Robbie ab und die Sache wurde nie wieder erwähnt.
Letztes Jahr, in der zehnten Klasse, hatten wir den größten Streit aller Zeiten darüber, ob Fotografie wirklich eine Kunst war oder ob jeder Idiot mit einer Kamera ab und zu ein fantastisches Foto schießen könnte. Wer welche Position vertrat, spielte keine Rolle, es endete auf jeden Fall in einem schrecklichen, lautstarken Streit im Garten hinter unserem Haus, bis meine Mutter herauskam und uns anfuhr, wir sollten endlich aufhören.
Nach diesem Streit sprachen wir zweieinhalb Wochen nicht miteinander, bis wir schließlich ein Dokument unterzeichneten, dass wir uns bei diesem Thema einig waren, uns uneins zu sein. Ich hatte mein Exemplar unseres Versprechens immer noch.
Es war kalt. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Kinn hoch und streifte die Kapuze über. Zuerst schlug ich Matts Richtung ein, doch dann wurde mir rasch klar, dass es viel zu weit war. Tränen liefen mir übers Gesicht, die ich jetzt nicht mehr aufhalten konnte. Warum tat Bree mir so etwas an? Frustriert drehte ich mich um und machte mich auf den langen Fußweg nach Hause.
Der scharfkantige Mond war so nah, dass ich seine Krater erkennen konnte. Ich lauschte auf die Geräusche der Nacht: Insekten, Tiere, Vögel. Meine Augen und Ohren stellten sich immer feiner darauf ein und ich ließ es geschehen. Im Dunkeln konnte ich Insekten ausmachen, die sechs Meter weg auf Bäumen hockten. Ich sah Vogelnester weit oben auf Ästen, über deren Rand die weichen, runden Köpfchen von Vogeljungen lugten. Ich spürte das schnelle, flattrige Klopfen der winzigen Vogelherzen, im synkopischen Rhythmus mit dem viel langsameren, schwereren Pochen meines Herzens.
Ich drehte die Lautstärke meiner Sinne herunter und kniff die Augen zu, doch die Tränen strömten unbeirrt
weiter meine Wangen hinunter. Ich wusste nicht, wie Bree und ich uns hiervon je erholen wollten, und weinte deswegen. Ich weinte, weil ich wusste, dass das hieß, dass sie und Cal tatsächlich zusammenkommen würden – dafür würde sie sorgen. Und ich weinte – und dabei bekam ich richtig Bauchschmerzen –, weil ich dachte, dies hieße, dass ich all die Türen in meinem Innern wieder verschließen musste, die ich doch gerade erst geöffnet hatte.
21
DER SCHMALE GRAT
»Jedes Mal, wenn du Liebe für etwas empfindest, sei es ein Stein, ein Baum, ein Geliebter oder ein Kind, wirst du von der Magie der Göttin berührt.«
Sabina Falconwing, in einem Café in San Francisco, 1980
Am nächsten Morgen klingelte früh das Telefon. Es war Robbie.
»Was ist los?«, fragte er. »Bree hat gestern Abend gesagt, du würdest nicht mehr zu den Kreisen kommen.«
Dass Bree davon ausging, ich würde ihrem Wunsch so ohne Weiteres nachkommen, erfüllte mich mit heißem Zorn. Ich schluckte ihn herunter und sagte: »Das stimmt nicht. Sie hätte es gern. Aber es ist nicht das, was ich will. Nächsten Samstag ist Samhain und da werde ich dabei sein.«
Robbie schwieg einige Sekunden. »Was geht da ab zwischen euch beiden? Ihr seid doch beste Freundinnen.«
»So genau willst du das gar nicht wissen«, sagte ich kurz angebunden.
»Du hast recht«, meinte er, »wahrscheinlich will ich es gar nicht wissen. Wie auch immer, wir treffen uns in
den Maisfeldern nördlich der Stadt, auf der gegenüberliegenden
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