Das Buch der Schatten - Böse Mächte: Band 6 (German Edition)
Im Hintergrund konnte ich vage ein weiß gestrichenes Haus erkennen. Ich hörte den leisen Schrei einer Möwe und fragte mich, wo Hunters Vater die ganze Zeit gewesen war und wo er sich jetzt aufhielt.
» Dad«, sagte Hunter. Ich spürte, dass seine Gefühle bis zum Zerreißen gespannt waren, und es tat mir beinahe weh. » Linden…«
» Ich weiß«, sagte der Mann und wirkte älter und trauriger. » Ich weiß. Beck hat uns erzählt, wie dein Bruder ums Leben gekommen ist. Es war nicht deine Schuld. Es war sein Schicksal. Hör mir zu, Sohn… deine Mutter…«
Dann veränderte sich das Bild und eine dunkle Präsenz strich über die Oberfläche des lueg . Es war wie eine Wolke, ein lilaschwarzer Dunst trübte den lueg , und Hunter und ich sahen schweigend zu, wie die dunkle Welle sich zusammenballte und verdichtete und das Gesicht seines Vaters und das weiß getünchte Fenster verdeckte.
Mit einem Ruck fuhr Hunter hoch, richtete sich auf und sah mich mit großen Augen an. Ich erwiderte seinen Blick, und sein blasses Gesicht spiegelte das wider, was ich gespürt hatte.
Meine Hände zitterten und waren feucht vom Schweiß. Ich rieb sie über meine Cordhose und versuchte zu schlucken, doch es ging nicht. Ich wusste, dass ich in dem Stein eben die dunkle Welle gesehen hatte– die dunkle Welle, die vor fast zwanzig Jahren meine Vorfahren und fast alle Mitglieder ihres Hexenzirkels vernichtet hatte. Die dunkle Welle, die, wie wir glaubten, irgendetwas mit Selene zu tun hatte.
Hunter ergriff als Erster das Wort. » Glaubst du, die dunkle Welle hat gerade meinen Vater genommen?«, fragte er mit heiserer Stimme.
» Nein!«, sagte ich entschieden. Er wirkte so verloren. Ohne zu überlegen, richtete ich mich auf den Knien auf, nahm ihn in die Arme und wiegte seinen Kopf an meiner Brust. » Da bin ich mir fast sicher. Es war mehr, als würde sie vor dem Stein vorbeistreifen. Zwischen uns und ihm. Ich kann es kaum glauben, Hunter, dass das dein Vater war. Er lebt!«
» Ja«, sagte Hunter. » Ich glaube, er lebt.« Er zögerte einen Augenblick. » Ich wüsste zu gern, was er mir gerade über meine Mutter sagen wollte.«
Ich schwieg, denn ich wusste nicht, wie ich ihn trösten konnte.
» Ich muss dem Rat Bericht erstatten«, murmelte er in meinen Armen.
Nach einigen Augenblicken zog er sich ein Stück zurück und hob die Hand, um mir die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Ich sah ihm in die Augen, doch ich konnte die Gefühle darin nicht lesen. Cals Gefühle waren mir immer transparent erschienen: Begehren, Bewunderung, unbeschwertes Flirten. Hunter dagegen war die meiste Zeit immer noch unergründlich für mich.
Dann dachte ich, zum Teufel damit, und bevor einer von uns es richtig mitbekam, beugte ich mich vor, legte ihm die Hände auf die Schultern und drückte meine Lippen auf seine, doch die Augen hielt ich offen. In seinen sah ich Überraschung aufblitzen, Begehren zünden, und dann schloss er die Augen und zog mich an sich, bis wir zu Boden sanken. Ich lag auf ihm, meine Brust auf seiner, unsere Beine verheddert.
Ich weiß nicht, wie lange wir so auf dem harten Boden mit dem unnachgiebigen Juteteppich lagen und uns küssten, doch irgendwann hörte ich ein leises Klopfen an meiner Tür und Mary K.s flüsternde Stimme: » Mom ist gerade gekommen.«
Mit roten Wangen und keuchenden Atemzügen lief ich runter und half meiner Mutter, die Einkäufe aus dem Auto zu laden, und als ich zehn Minuten später wieder in mein Zimmer ging, war Hunter fort, und ich hatte keine Ahnung, wie er aus dem Haus gekommen war, ohne dass einer von uns es bemerkt hatte.
7
Ein Kreis zu dritt
8. November 1973
Clyda ist gestern wieder ohnmächtig geworden. Ich fand sie hier am Fuß der Treppe. Dies ist das dritte Mal in zwei Wochen. Keiner hat ein Wort gesagt, aber sie ist eben einfach alt. Sie hat nicht auf sich achtgegeben, sie hat zu viel Magie gewirkt und sich dabei zu wenig Grenzen gesetzt, und sie hat sich zu sehr mit den dunklen Mächten befasst.
Diesen Fehler werde ich niemals machen. Ja, ich gehöre Turneval an, und ja, ich rufe die dunkle Seite an. Aber niemals, ohne mich zu schützen. Niemals ohne Vorsichtsmaßnahmen. Ich trinke nicht aus diesem Kelch, ohne dafür zu sorgen, dass er wieder aufgefüllt wird.
Wie auch immer, Clydas Gesundheit ist ihre Sache. Sie bittet mich nicht um meine Fürsorge und sie will sie auch nicht, und inzwischen brauche ich sie bei meinen Studien auch immer weniger. Seit der Großen Prüfung
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