Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Wahrheit zu verschweigen.
In diesem Moment kam Rouven die Treppe heruntergeschlichen. Lautlos, auf Zehenspitzen. Nur Schwester Maria bemerkte, daß Rouven das Lehrerhaus verließ. Ein kurzes Lächeln flog über ihren Mund.
Rouven tat, als würde er belanglos über den Internatshof schlendern. Die Blicke Showys waren ihm nicht entgangen, der unweit vom Lehrerhaus unter einem Baum hin und her schritt. Langsam näherte Rouven sich der Kathedrale. Showy folgte jedem seiner Schritte. In aller Ruhe spazierte er am Eingang der Kirche vorbei und bog um die Mauer herum Richtung Speisesaal. Ein paar Jungs aus einer anderen Klasse kamen ihm lachend entgegen. Als sie ihn bemerkten, verstummten sie schlagartig. Flüchtige, beinah verächtliche Blicke warfen sie ihm zu. Kaum waren sie an ihm vorüber, vernahm Rouven deutlich das Flüstern seines Namens.
Showy konnte ihn nun nicht mehr beobachten. Eilig schritt Rouven auf den Hintereingang der Kirche zu. Rouven überzeugte sich davon, daß ihn niemand sehen konnte. Die Tür war nicht verschlossen. Gerade als er sie betreten wollte, wurde der Eingang vom Schülerhaus geöffnet. Melanie trat ins Freie. Sein rotes Haar verriet ihr, daß er es war, der in der Kathedrale verschwand. Jedoch machte sie sich keine weiteren Gedanken darüber. Zwei Freundinnen waren ihr gefolgt, mit denen sie in ein Gespräch vertieft über den Hof bummelte.
Leise schlich Rouven sich zum Aufstieg des Turmes. Ständig mußte er an Jeremie denken. Vor einem Tag war sein Freund noch an seiner Seite gewesen. Spaß hatten sie zusammen gehabt. Nun war Jeremie tot. Sein einziger Freund, den er jemals gehabt hatte, tot. Rouven gab sich die Schuld, daß sein Freund von dem Turm stürzte.
„Jeremie“, hauchte er. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er mußte sich dazu überwinden, die Stufen zu betreten. Weinend stieg er mit gesenktem Kopf den Turm hinauf. Erst als Tageslicht ihm wieder ins Gesicht schien, blickte er auf. Erschrocken blieb Rouven stehen. Pater Richmon kniete auf dem Boden. Der Tritt der sechsundsechzigsten Stufe lag in zwei Teilen vor ihm. Schnell wischte sich Rouven die Tränen aus dem Gesicht.
„Hallo Rouven“, begrüßte ihn der Pater. Freundlich lächelte er Rouven entgegen und erhob sich aus seiner knienden Stellung. „Ich habe dich schon von weitem kommen sehen.“ Er streckte Rouven seine Hand entgegen, um ihm dadurch anzudeuten, daß er vollends heraufkommen sollte. Rouven folgte der stummen Aufforderung. Ein beklemmendes Gefühl überkam ihn, als er einen großen Schritt über die letzte Stufe machte. Der Pater zog ihn etwas zur Seite. Prüfend ließ er seine Blicke über Rouven schweifen. Plötzlich verschwand das Lächeln. Nahezu entsetzt starrte er Rouven an.
„Du hast es doch?“ fragte er erregt. Rouven sah ihn mit großen Augen an. Langsam schüttelte er seinen Kopf. Bestürzt machte Richmon einen Schritt zurück.
„Du – hast – es – nicht?“ stammelte Richmon entsetzt. Mehrmals atmete der Pater tief durch. Mit dem Finger zeigte er auf den Boden.
„Hier sind Blutspuren“, sagte er gefaßt. „Derjenige muß sich demnach verletzt haben.“
„Dumpkin, Ellinoy“, nannte Rouven automatisch die Namen seiner Widersacher. Kalt lief es ihm über den Rücken. War Jeremie doch kein Traum?
Richmons Gesicht verfinsterte sich. Zorn durchblitzte seine Augen. Schnaubend wandte er sich ab. Mit beiden Armen stützte er sich gegen die Brüstung, über die Jeremie gefallen war. Stück für Stück suchten seine Blicke den Schulhof ab. Keinen der Unzertrennbaren konnte er erblicken. Auch Showy nicht, da der Baum, unter dem er sich befand, die Sicht versperrte. Soeben verließ Sallivan das Lehrerhaus. Mit energischen Schritten steuerte er direkt auf Showy zu.
„Wir müssen es wieder bekommen“, stieß der Pater zwischen den Zähnen hervor. Abrupt wandte er sich wieder Rouven zu. „Wie haben sie davon erfahren?“ wollte er dann wissen. „Woher wußten sie den genauen Platz des Buches?“ Mit durchdringenden Blicken musterte er Rouven.
„Mein Vater“, antwortete Rouven etwas eingeschüchtert. „Er hat mir zwei Briefe geschrieben. Zweimal denselben.“
„Einen hast du von Mr. Goodman bekommen“, erwiderte Richmon. „Einen gab ich Schwester Maria“, sagte er mehr zu sich selbst. Der Pater hob einen Teil des Trittes, der vor ihnen lag. Es war der Teil mit dem seltsamen Zeichen.
„Weißt du, was das ist?“ fragte er Rouven und deutete mit dem Finger darauf. Rouven
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