Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
nicht“, stöhnte Dumpkin.
„Hoffentlich hast du dir nicht die Sehnen durchtrennt“, erschrak Ellinoy. Mit dem Hemdsärmel bandagierte er die verletzte Hand so, daß Dumpkin die Finger nicht mehr bewegen konnte.
„Ist es besser so?“ fragte er ihn darauf.
Dumpkin versuchte zu grinsen. „Wirst mal Arzt, – was?“ gab er scherzhaft zurück.
Ellinoy streifte sich das ärmellose Hemd wieder über. Dumpkin wandte sich der Stufe zu. Der Oberteil des Trittes lag in zwei Hälften vor ihm. Beinah genußvoll legte er sie auf die Seite. Dumpkin konnte es kaum erwarten, in das Innere der sechsundsechzigsten Stufe zu sehen. Seine Hand, in der er die Taschenlampe hielt, zitterte. Zögernd knipste er sie an. Zwischenzeitlich hatte Ellinoy sich das Hemd wieder zugeknöpft. Auf allen vieren bewegte er sich vorwärts. Gleichzeitig blickten sie in die Öffnung. Gleichzeitig zuckten sie zusammen. Vor ihnen lag es, das Buch. Ungefähr dreißig Zentimeter lang und fünfundzwanzig Zentimeter breit, in einer bräunlichen Farbe. Dasselbe Zeichen, wie sie es auf dem Tritt vorgefunden hatten, war auf dem Deckel des Buches eingebrannt. Drei Worte standen darunter, die jedoch in einer anderen Sprache geschrieben waren.
„EGO VENIO ITERIUM“, las Ellinoy leise.
„Ich getraue mir gar nicht, es anzufassen“, hauchte Dumpkin. „Nehmen wir es gemeinsam da heraus“, forderte er seinen Freund auf.
„O . k.“, stimmte Ellinoy zu. Vorsichtig näherte er seine Hand dem Buch. Kurz davor hielt er inne. „Sallivan!“ zischte er. „Von nun an sind deine Stunden gezählt!“ Zorn blitzte in Ellinoys Augen, als er das Buch berührte.
*
Rouven schreckte auf. Nachdem der Pater die Kirche verlassen hatte, war auch Rouven zurückgekehrt. Lautlos, wie er gegangen war, hatte er sich wieder in das Lehrerhaus geschlichen und sich in sein Bett gelegt. Halb drei Uhr war es, als er in einen unruhigen Schlaf verfiel. Eine Stunde später fuhr Rouven blitzartig nach oben.
„Jeremie“, hauchte er. Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen.
Sie haben es, sprach eine Stimme zu ihm. Aus dem Dunkeln näherte sich etwas auf ihn zu.
„Jeremie“, wiederholte Rouven. Eindeutig erkannte er die Stimme seines Freundes.
Plötzlich stand er vor ihm. Rouven sah ihn genau, den aufgeplatzten Schädel seines Freundes. Das blutverschmierte Gesicht. Das rechte Auge fehlte. Die Flüssigkeit hatte sich mit dem Blut vermischt. Aus den Armen ragten Knochensplitter. Sein Brustkorb war vollkommen eingedrückt.
Sie haben es, sagte die Stimme Jeremies nochmals.
„Du bist tot, Jeremie.“ Rouven starrte mit aufgerissenen Augen auf das vor ihm.
Sie haben das Buch. Dumpkin und Ellinoy. Das Buch, dein Buch. Du mußt es dir wiederholen.
„Du bist doch tot, Jeremie. Du bist vom Turm gestürzt.“
Ich bin hier, um dich zu warnen, kam es zurück. Du warst mein Freund. Du kannst nichts dafür, daß ich vom Turm gestürzt bin. Das Buch hat schuld daran. Es befand sich auf dem Turm. Das Buch war es, das mich vom Turm gestürzt hat.
Rouven bewegte unmerklich seinen Kopf von links nach rechts.
Es ist mir erlaubt, dir zu helfen. Nimm dich in acht vor ihnen. Sie werden versuchen, dich aus dem Weg zu räumen. Tu alles, um das Buch zu bekommen. Alles, mein Freund! Alles! Langsam bewegte sich Jeremies Gestalt zurück. Alles! hörte Rouven noch sagen, bevor sie gänzlich in der Dunkelheit verschwand.
Schwester Maria beugte sich über Rouven. Sanft strich sie über sein Haar.
„Jeremie!“ entfuhr es Rouven. Gleichzeitig öffnete er seine Augen. Verstört blickte er um sich.
„Jeremie“, wiederholte er und starrte in die Richtung, in die er seinen Freund verschwinden sah.
Schwester Maria versuchte zu lächeln. „Du hast lange geschlafen“, sagte sie. „Es ist schon zehn Uhr.“
Rouven erschrak. Schlagartig kehrte es zurück, das Erlebte der Nacht. Die Erscheinung Jeremies. War es nur ein Traum? Rouven konnte nur ahnen. Schnell drängte er den Gedanken beiseite.
„Ich möchte zu Pater Richmon“, erwiderte Rouven geradeheraus. Dabei sah er der Schwester direkt in die Augen.
Schwester Maria nickte. „Darüber wird er sich sehr freuen.“ Sie entfernte sich, um Rouven beim Aufstehen nicht zu hindern. Im selben Moment klopfte es an der Tür. Bevor Schwester Maria etwas sagen konnte, wurde sie von außen geöffnet. Sallivan betrat das Zimmer.
„Können Sie nähen?“ fragte er sie in barschem Tonfall. Schwester Maria blickte verärgert auf Sallivan. Schon setzte sie
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