Das Buch der Sünden
erreichten sie die Anhöhe von Saint Geneviève. Gregor meldete seine Fracht beim Pförtner an. Das schwere Tor öffnete sich.
Als es sich hinter ihnen wieder schloss, fand Odos bisheriges Leben endgültig sein Ende. Man nahm ihm seine Kleidung ab, gab ihm dafür zwei Kukullen – Obergewänder mit Kapuzen – und zwei wollene Tuniken mit kurzen Ärmeln in der grauen Farbe der Benediktinermönche sowie Überwurf, Strümpfe und Schuhe. Dann brachte man ihn in den Novizenraum.
Trotz beharrlicher Überredungsversuche gelang es den Brüdern nicht, den Jungen dazu zu bewegen, seine Faust zu öffnen. Sollte sich darin nämlich ein weltliches Gut befinden, so hätte er es abgeben müssen. Es war den Gottesdienern bei Strafe verboten, Eigentum zu besitzen. Alles sei allen gemeinsam, und keiner nenne etwas sein Eigen, so lautete die Regel des heiligen Benedikt. Odo musste Keuschheit und Gehorsam geloben – und Besitzlosigkeit.
Erst in tiefster Nacht, als die zur Matutin, dem nächtlichen Stundengebet, vorgetragenen Psalmen verklungen waren, öffnete Odo seine Hand und befühlte zärtlich das silberne Kreuz.
Alexandras Glücksbringer.
Jedes Mal, wenn Odo in der folgenden Zeit das Kreuz ansah, schwor er im Angesicht des silbernen Schmuckstückes, dass er eines Tages den Dämon vernichten würde, der die Welt mit Unheil und Finsternis überzog: Ragnar Loðbrœk, der Häuptling der Normannen, der Pagani!
Er, Odo, Sohn des Siegfried von Lutetia und der Sarazenin Alexandra, würde den Heiden für seine Sünden richten, ihn, den Engel aus der Tiefe.
Den Verderber.
TEIL II
Sankt Gallen
Herbst 861 – Frühjahr 862
Und der zweite Engel goss seine Schale aus ins Meer;
und es wurde zu Blut wie von einem Toten
und alle lebendigen Wesen im Meer starben.
Offenbarung des Johannes 16, 3
1.
Die Mörder kamen über die Flüsse.
Bestärkt durch Ragnars Erfolg, Karl dem Kahlen siebentausend Pfund Silber abgepresst zu haben, drangen immer neue Flotten der Normannen in das westfränkische Reich ein. Wie die Heuschrecken fielen sie über Klöster, Dörfer und Städte her, vor allem über jene, die an den großen Flüssen lagen. Die Barbaren brandschatzten und vergewaltigten; sie töteten und versklavten die Menschen. Tausende waren in jenen Jahren auf der Flucht. Hunger und Unruhen waren die Folge. Mehrmals waren die Heiden auch nach Paris zurückgekehrt, hatten die Stadt ausgeplündert und viele Menschen erschlagen.
Im Jahr des Herrn 861 bat eines Tages ein fremder Mönch um Aufnahme in Saint Geneviève. Der zerlumpte und halb verhungerte Mann stammte von der Klosterinsel Noirmoutier, die an der Mündung der Loire lag. Diese Gegend war einst ein Zentrum des Wein- und Salzhandels gewesen, in der Vergangenheit aber immer wieder von Normannen heimgesucht worden. Seither nutzten die Barbaren die von den Mönchen verlassene Klosterinsel als Winterlager und Stützpunkt für ihre Raubfahrten ins Landesinnere.
Nachdem man den Bruder in Saint Geneviève gewaschen und mit reichlich Essen versorgt hatte, berichtete er im Kapitelsaal von den teuflischen Werken der Barbaren, die im ganzen Reich ihr Unwesen trieben.
Auch Odo, der inzwischen vierundzwanzig Jahre altwar, befand sich an jenem Abend im Kapitel und hörte die Worte, die von einem Klosterbruder niedergeschrieben und auf diese Weise für die Nachwelt dokumentiert wurden.
«Die Zahl der Schiffe nimmt beständig zu», berichtete der Mönch aus Noirmoutier. «Der endlose Strom der Normannen hört nicht auf zu wachsen. Überall sind wir Christen die Opfer von Massakern, Brandstiftungen und Plünderungen. Die Heiden erobern alles, was am Wege liegt, und niemand kann sie daran hindern. Sie erobern Bordeaux, Périgueux, Limoges, Angoulême und Toulouse. Angers, Tours und Orléans sind vernichtet. Das Unglück wird immer größer. Rouen liegt zerstört, geplündert und niedergebrannt da; Paris, Beauvais und Meaux werden angegriffen. Die Befestigungen von Melun sind völlig zerstört, Chartres wurde erobert, Evreux und Bayeux geplündert und jede Stadt belagert.»
Als der Mönch mit seiner Aufzählung geendet hatte, legte sich eine bleierne Stille über den Kapitelsaal. Das einzige Geräusch war das der auf Pergament kratzenden Feder des Schreibers, der das Grauen schriftlich festhielt.
Melun, Chartres, Evreux
…
Der Schreiber hatte Mühe, der Auflistung der zerstörten Städte nachzukommen.
Die Dämonen des Teufels breiten sich aus, dachte Odo. Vor seinem geistigen Auge
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