Das Buch der Sünden
erschien – wie so häufig – das Bild des Wesens, dessen irdische Gestalt der Satan angenommen hatte: Ragnar Loðbrœk.
Sechzehn Jahre und damit zwei Drittel seines Lebens hatte Odo nun schon im Kloster verbracht. Seine anfänglichen Fluchtgedanken hatte er bald aufgegeben und sich mit dem entbehrungsreichen Klosterleben abgefunden.Trost fand er im Glauben an Gott, dem er im Gebet all seine Sorgen und Ängste anvertraute.
Doch seine Eltern hatte Gott ihm nicht ersetzen können, und die Frage nach dem Schicksal seiner Mutter nagte nach all den Jahren noch an ihm wie Mäuse an den harten Brotlaiben im Klosterkeller. Trotz der Geborgenheit, die er im Kloster meist verspürt hatte, war die Flamme der Sehnsucht nie erloschen. Odo nährte das Feuer mit seinen Gedanken an das, was damals in Paris geschehen war. Es waren die Bilder des Grauens, die er niemals würde verdrängen oder gar vergessen können; Bilder, die ihn heimsuchten in zahllosen Nächten, in denen er schlaflos im Dormitorium lag.
In diesen Bildern sah er den abgeschlagenen Kopf seines Vaters Siegfried auf dem Fußboden liegen. Er sah die Normannenkrieger, die wie Wölfe über Allisa herfielen. Er sah das schrecklichste aller Wesen: den Mann mit dem riesigen Schwert, Ragnar Loðbrœk, den Verderber! Und er sah, wie dieser Teufel sich über seine Mutter hermachte.
Gott, das bedeutete in Odos stetig gewachsenem Glauben Liebe und Vergebung. Aber Gott stand auch für Gerechtigkeit. Und Gerechtigkeit würde es auf Erden erst geben können, wenn der Verderber für seine Sünden gerichtet sein würde.
Das Kloster Saint Geneviève besaß eine kleine Bibliothek. Unzählige Stunden hatte Odo bei Kerzenschein in den heiligen Schriften gelesen, hatte sie wieder und wieder studiert, Seite für Seite, Wort für Wort, immer auf der Suche nach einem Hinweis, wie er den Verderber würde finden und vernichten können. Aber nirgendwo hatte er eine entsprechende Passage entdeckt. Er bedauerte, dass ihm nicht noch mehr Bücher zur Verfügung standen, dieAuswahl der Werke in Saint Geneviève war überschaubar.
Im vergangenen Jahr hatte ihm ein reisender Bruder von einer großen Bibliothek im Kloster Sankt Gallen am nördlichen Rand der Alpen erzählt. Dort gebe es Hunderte Bücher und Schriften, in denen man auf jede Frage eine Antwort finden könne.
Sollte Odo in das Kloster Sankt Gallen reisen, um dort die Bücher zu studieren? Um Antworten zu finden? Wieder und wieder hatte er darüber nachgedacht, sich aber bislang nicht zu einer Entscheidung durchringen können.
Der Mönch berichtete ihnen in den folgenden Tagen noch von vielen Grausamkeiten der Normannen. Mit jedem Beispiel, das er nannte, wuchs das Entsetzen seiner Zuhörer. Bei der Erstürmung der Stadt Nantes, so sagte er, hätten sich die Normannen die Säuglinge der Eroberten gegenseitig auf die Spieße geworfen. Auch sei dort der Bischof am Altar seiner Kathedrale ermordet und der Glockenturm in Brand gesetzt worden. In Tours hätten die Heiden das Kloster des heiligen Martin in Flammen aufgehen lassen und Dutzenden Mönchen die Köpfe abgeschlagen.
Die Franken gaben vor allem ihrem schwachen König die Schuld. Denn Karl war nicht in der Lage, sein von Zwietracht erfülltes Reich vor den Normannen zu schützen. Anstatt die Flüsse zu sperren, hatte er die Gegenden um die Flüsse Seine, Loire oder Garonne den Angreifern preisgegeben. Immer wieder waren die Franken gezwungen, sich von den Eroberern freizukaufen. Ob durch kleinere Beträge wie sechs Pfund Silber für das Kloster Jumièges oder die unvorstellbare Summe von siebentausend Pfund für Paris.
Die von den Nordmännern erpressten Tribute erhielten bald den Beinamen
Danegeld,
das Dänengeld.
Odo war jedoch davon überzeugt, dass die Ursache für die Hilflosigkeit der Christen nicht die Schwäche des Königs war. Es war das Wachsen des teuflischen Einflusses. Mit jedem Tag gewann der Verderber an Macht. Mit jedem Tag, an dem der gefallene Engel nicht vernichtet wurde.
Wenn die Brüder schliefen, holte Odo aus dem Versteck hinter einem losen Wandstein Alexandras Silberkreuz hervor. Dort hatte er das Schmuckstück verbergen müssen, nachdem die Mönche ihm mit Ausschluss gedroht hatten, wenn er seine Faust nicht öffnen würde. Er hatte nachgegeben und seine Faust geöffnet: Sie war leer. Odo hatte niemandem von seiner Reliquie erzählt.
«Mutter», flüsterte er in die Stille. «Mutter – lebst du? Herr, gib mir ein Zeichen!»
Doch wie immer
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