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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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am Fuß der Steilküste entlang, bis er am Hang eine vom Regenwasser ausgespülte Rinne entdeckte. Er machte sich an den Aufstieg. Er hangelte sich an dornigen Büschen, an denen kleine orangefarbeneBeeren wuchsen, hinauf. Die Schmerzen in seinem Oberschenkel loderten bei jedem Tritt auf.
    Oben angekommen, stieß er auf einen Wildpfad. In der ausgetretenen Erde waren Spuren von Wildschweinen und Hirschen zu erkennen. Der Pfad führte zunächst entlang der Küste zwischen Büschen und vom Wind geformten Bäumen und bog schließlich in den Wald ab. Dichtes Blätterwerk überdeckte den Hügel wie das Dach einer riesigen Halle. Der Boden war mit Farnsträuchern überwuchert.
    Helgi war dem Wildpfad einige Hundert Schritt gefolgt, als der Wald sich unterhalb des kahlen Hügels lichtete. Der Weg schlängelte sich nun einen Hang hinauf, vorbei an Heidekräutern, Ginstersträuchern und roten Wildrosen. Der angenehme Blütenduft war eine Wohltat nach dem Gestank, den die Leichen verströmt hatten.
    Je näher Helgi dem höchsten Punkt der Insel kam, desto leichter fühlte er sich. Als er die Kuppe erreichte, raubte ihm der Ausblick den Atem. Er schaute nach Osten. Da lag Rujana. Das Ziel ihrer Reise.
    Die Insel war von einer schier undurchdringlichen Walddecke überzogen. Hier und da schimmerten die Oberflächen großer Seen durch die Bäume. Nach Süden hin war die Insel vom Festland durch eine schmale Wasserstraße getrennt, dem Sund.
    Helgi wandte sich nach Westen. Über dem Meer ging die Sonne unter. Ihre glutroten Strahlen tauchten alles in ein so geheimnisvolles Licht, dass es den Eindruck machte, die Welt würde in einem Flammenmeer aufgehen.
    Die Insel der Götzen erwartet uns mit Feuer, dachte Helgi.
    Ihm wurde kalt.
     
    Im letzten Tageslicht machte sich Helgi an den Abstieg und erreichte bald darauf wieder die Steilküste. Von dort erblickte er Teška, die gerade ihre letzten Schwimmzüge machte und sich dann im seichten Uferbereich an Land treiben ließ, bis sie auf allen vieren auf den Strand krabbelte und sich im Wellensaum rücklings niederlegte. Schäumendes Wasser umspielte ihren blassen Körper.
    Helgi beugte sich weiter vor, um besser sehen zu können. Dabei stützte er sich gegen einen kleinen Baum. Zu spät merkte er, dass der Stamm morsch war, er zerbrach unter Helgis Gewicht mit einem hohlen Knacken. Helgi verlor den Halt, stürzte den steilen Hang hinunter und landete auf dem Strand.
    Stechende Schmerzen flammten in seinem Bein auf.
    Teškas Gesicht erschien über seinem. «Hast du mich beobachtet?»
    «Ich   … ich habe nach den Seeräubern Ausschau gehalten.»
    Sie drehte sich weg und schlang die Arme fest um ihre Knie. Wassertropfen perlten von ihrer Haut ab. Irgendwann begann sie, den Blick aufs Meer gerichtet, leise zu sprechen.
    «Es waren Seeräuber, die uns damals überfallen haben», erzählte sie. «Sie haben meine Mutter erschlagen.» Ihre Augen schimmerten feucht.
    «Das tut mir leid», flüsterte Helgi.
    «Und dann kam ein Mann, der sich in ein Wolfsfell gehüllt hatte.»
    «So wie der Kerl in Reric?»
    Sie nickte. «Er hat meinen Vater getötet.»
    Helgi setzte sich auf und berührte zärtlich ihren Arm.Ihre Haut fühlte sich kühl an. Er zog sein Hemd aus und breitete es über ihren Schultern aus.
    «Ich habe geschrien», fuhr Teška fort. «Dann haben sie mich entdeckt und auf ein Schiff gebracht.»
    «Hast du den Mann mit dem Wolfsfell erkannt?»
    Sie rang mit sich um eine Antwort. Schließlich wandte sie Helgi das Gesicht zu und sagte: «Nein!»
    Er spürte, dass das nicht die Wahrheit war, sagte aber nichts, weil er sie mit ihren Erinnerungen nicht noch mehr quälen wollte.
    Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die Dunkelheit legte sich wie eine Decke über das Meer. Auch der Wind schlief ein. Nur noch leise plätscherten die Wellen an den Strand. Irgendwo, im Wald über der Steilküste, krächzte ein Rabe.
    Nach einer Weile sagte Teška: «Wenn wir Rujana erreichen, werden dort Dinge geschehen, die du nicht verstehen wirst. Nur eins musst du wissen, Helgi: Ich kehre in meine Heimat zurück, um den Tod meiner Eltern zu rächen, und nur ich ganz allein kann das tun. Dabei wird mir niemand helfen können, auch du nicht.»
    Helgi starrte sie überrascht an. Als er etwas sagen wollte, legte sie ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen und sagte: «Da ist jedoch noch etwas anderes, was du wissen musst: Ich liebe dich.»
    Helgi stockte der Atem. Er vergaß sein schmerzendes Bein,

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