Das Buch der Sünden
– wie er jetzt erst bemerkte – nur wenige Schritte entfernt befand.
«Es ist ein Opfer der Ranen», erklärte Teška. «Unsere Zauberer strangulieren manchmal Pferde und spießen sie auf, um die Götter zu besänftigen, damit sie uns eine reiche Ernte bescheren.»
«Das scheint ja in diesem Fall nichts bewirkt zu haben», raunte Ansgar und bekreuzigte sich. «Lasst uns weiterfahren. Das hier ist ein Ort der schwarzen Magie.»
Helgi stieß ein Ruder ins Wasser und stakte den Kahn durch das Schilf. Anschließend ließ er das Boot eine Weile in der Nähe des Ufers treiben, damit sie sich schnell verstecken konnten, falls die Víkingr zurückkehrten. Aber die Sorge war unbegründet.
Die Seeräuber hatten längst das offene Meer erreicht.
11.
Ralsvik.
Das war der Name der Siedlung, in der Teška aufgewachsen war. Ralsvik war einer der bedeutendsten Hafen- und Handelsplätze an der Küste des Baltischen Meeres und verdankte diese Stellung dem geschützten, gutausgebauten Hafen und der zentralen Lage. Der Standort in der Mitte der Insel Rujana hatte die Entwicklung des erfolgreichen Marktplatzes begünstigt. Handelsschiffe aus fernen Ländern steuerten den Ort an, um hier die Waren – Bernsteine, Felle, Bauholz, Salz oder Waffen – umzuschlagen, die dann von Ralsvik aus mit Pferden oder Ochsenkarren weiter in alle Regionen der Insel gebracht wurden.
Als die Stadt am südlichen Ufer eines Boddens, den man den Yasmunder Bodden nannte, auftauchte, forderte Teška Helgi auf, eine kleine Bucht anzusteuern, die sich etwa eine halbe Meile nördlich von Ralsvik befand. Teška sprang sofort ins Wasser, als der Kiel den Grund berührte, und wartete voller Ungeduld, bis die anderen beiden ihr folgten.
Teška geleitete sie durch dichtes Unterholz, bis sie auf einen Pfad stießen. Er führte auf eine bewaldete Erhebung, von der aus die Siedlung zu überblicken war.
Auf der in den Bodden ragenden Landzunge stand eine Ansammlung von mehreren Dutzend Häusern, über deren Dächern sich blasse Rauchfahnen kräuselten. Die meisten Gebäude waren aus Holzstämmen oder aus Flechtwerk errichtet, die Dächer mit Grassoden und Schilf gedeckt.
Die Landzunge war im Süden durch einen Bach vom Festland getrennt. Eine Straße führte von Ralsvik über eine Brücke in die Hügelkette, die sich am südlichen Ufer des Boddens erhob. Die Hügel waren weitgehend kahl, da man die Bäume zum Bau der Häuser gefällt hatte. Der Hafen befand sich am westlichen Ufer der Landzunge. Ein gutes Dutzend Molen ragte in einen sumpfigen Binnensee. Die Molen waren zwischen zehn und dreißig Fuß lang; einige waren zum Schutz der Waren, die hier umgeschlagen wurden, überdacht.
Über der Hafeneinfahrt thronte ein etwa fünfzig Fuß hoher Wachturm.
Helgi wunderte sich, dass nirgendwo Handelsschiffe zu sehen waren. Die einzigen Boote waren kleine Fischerkähne. Zudem hielt sich lediglich eine Handvoll Frauen im Hafen auf, die Wäsche wuschen.
Auch der Marktplatz, der etwa in der Mitte der Siedlung lag, war nahezu menschenleer. Nur ein paar Kinder prügelten mit Holzschwertern aufeinander ein. Am östlichen Siedlungsrand, wo das Gelände sich dem Bodden zuneigte, pulten Fischer Algen und andere vertrocknete Pflanzenreste aus Netzen, die auf Stangen aufgehängt waren. Frauen schleppten Feuerholz über die Brücke. Eine Hauptstraße führte durch den Ort, vorbei an eingezäunten Viehweiden, auf denen magere Ochsen, Kühe, Schweine, Schafe, Ziegen und Pferde nach Gras suchten.
Eine lähmende Stille lag über Ralsvik. Menschen, diesich auf der Straße begegneten, begrüßten sich nicht. Niemand lachte. Auch die Kinder nicht, die sich mit den Holzschwertern schlugen.
Teška deutete auf ein hallenartiges Gebäude unweit des Hafens. «Dort hat meine Familie gelebt», erklärte sie mit belegter Stimme.
Es war das größte Anwesen der Siedlung und von einer mannshohen Steinmauer umgeben. Dahinter befand sich ein großzügiges Langhaus, zu dem mehrere Schuppen und kleinere Hütten gehörten.
Ein kaum erkennbarer Gegenstand, der an der Hafeneinfahrt auf einem Stab steckte, erregte Helgis Aufmerksamkeit. Als er Teška danach fragte, seufzte sie schwer. «Es ist der Kopf eines Menschen.»
«Ein Opfer? So wie das Pferd?»
Teška nickte mit düsterer Miene.
«Ich habe es doch gewusst!», schnaubte Ansgar. «Die Götzenanbeter sind Barbaren. Sie bringen sogar Menschenopfer dar.»
Sie blieben auf dem Hügel, bis die Dämmerung hereinbrach.
Unter ihnen
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