Das Buch der Sünden
waberten Nebelschwaden über den Bodden. In Ralsvik war es still geworden, nachdem die letzten Menschen in ihren Hütten verschwunden waren. Alle Arbeiten ruhten, die lärmenden Kinder waren verstummt. Nur das Vieh blieb auf den Weiden. Die Pferde, die ein besonders wertvoller Besitz waren, hatte man in die Häuser geholt oder in separaten Stallgebäuden untergebracht.
Eine Weile, nachdem Ruhe eingekehrt war, öffneten sich die Haustüren wieder. Im letzten Tageslicht sah man die Ranen aus ihren Hütten treten. Zunächst kamen dieMänner, die Hausherren. Ihnen folgten die Frauen, dann die Kinder. Viele Familien hatten drei oder vier, einige sogar sechs oder mehr Kinder.
Viele Menschen hatten Fackeln dabei, und bald bildete sich ein langer, leuchtender Tross, der sich von der Siedlung bis zu einem Gebäude zog, das nahe der landseitigen Holzbrücke stand.
«Das ist unsere Kulthalle», sagte Teška.
Ansgar schlang bei dem Anblick die Arme um seinen Oberkörper, als friere er. Der Fackelzug versammelte sich nach und nach um die Kulthalle, an deren First große Götzenbildnisse befestigt waren. Dann betraten einige Männer das von innen beleuchtete Gebäude.
Als habe sie darauf gewartet, wandte sich Teška zum Gehen. Mit sicherem Schritt führte sie Helgi und Ansgar durch den dunklen Wald den Abhang hinunter zum Boot.
Helgi ruderte so leise wie möglich über den Bodden, der vom Nebel eingehüllt wurde. Geisterhaft schimmerten die Schwaden im Mondlicht, als das Boot geräuschlos am Totenschädel bei der Hafeneinfahrt vorbeitrieb. Der Unterkiefer war bereits abgefault und heruntergefallen. Es schien, als würde der Schädel sie angrinsen und alle Ankömmlinge vor dem Betreten der Siedlung warnen.
Als Helgi an der vordersten Mole anlegte, schrammte das Boot knirschend an der aus Holzbohlen gefügten Spundwand entlang. Sie vertäuten den Kahn und kletterten auf die Mole, an deren Fuß eine lebensgroße Holzskulptur stand. Dabei handelte es sich um einfaches Schnitzwerk aus einem schwertförmigen Brett, auf dem ein menschliches Gesicht mit grimmig-traurigen Zügen dargestellt war.
Sie hatten kein gutes Gefühl dabei, das Boot unbewacht im Hafen zurückzulassen. Wenn sie fliehen müssten, warensie darauf angewiesen. Doch Teška drängte zum Aufbruch.
Sie folgten einer mit Weidenruten befestigten Gasse, die zwischen den verlassenen Häusern hindurch quer durch Ralsvik führte und nach einer Weile auf eine breitere Straße stieß. Hier schwenkte Teška nach Norden, und bald darauf erreichten sie das Anwesen.
Teška trat, ohne zu zögern, durch das Tor und marschierte geradewegs auf das Langhaus zu. Das Gebäude machte einen gepflegten Eindruck; die Wände waren sauber mit Lehm verputzt, das Schilfdach war frisch gedeckt. Über der Tür hingen die blanken Knochen eines Pferdeschädels.
Helgi zuckte zusammen, als sich aus dem Giebel des Hauses der Schatten einer Eule löste und mit klatschenden Flügeln in die Nacht davonflog.
Teška hatte unterdessen ein Ohr an die Tür gelegt und lauschte. Da im Innern kein Geräusch zu vernehmen war, drückte sie gegen die Tür, die jedoch von innen verriegelt war. Unverrichteter Dinge mussten sie das Anwesen wieder verlassen.
Teška führte sie zum Boddenufer, von wo aus man die Kulthalle am anderen Ende der Siedlung sehen konnte. Die Menschen hatten das Gebäude inzwischen wieder verlassen, und nun zog sich die lange Lichterkette von der Kulthalle über eine Brücke bis hin zu den Hügeln jenseits der Stadt.
«Das ist eine heidnische Zeremonie», raunte Ansgar. «Wir sollten uns irgendwo verstecken, bevor uns die Götzenanbeter die Köpfe abschlagen und damit ihren Hafen schmücken.»
Aber Teška achtete nicht auf die mahnenden Wortedes alten Mannes, sondern ging ohne Umschweife auf die Kulthalle zu.
Ansgar war entsetzt. «Allmächtiger Vater – was hat sie vor?»
Helgi war hin und her gerissen. Auch ihm behagte das geisterhafte Treiben dieser Menschen nicht, aber er konnte Teška unmöglich allein lassen. Als er Anstalten machte, ihr zu folgen, versuchte Ansgar ihn zurückzuhalten. «Es ist zu gefährlich. Wir holen das Boot und kehren zum Hügel zurück. Teška ist eine von ihnen. Ihr werden sie nichts tun.»
Doch Helgi schüttelte Ansgars Hand ab. «Geh du nur. Ich muss mich um Teška kümmern.»
«Starrköpfiger Däne», schnaubte Ansgar.
«Das hat meine Mutter auch behauptet.»
«Und sie hat recht gehabt!»
Seufzend stapfte er Helgi hinterher.
12.
Teška wartete
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