Das Buch der Sünden
Teška schwamm noch immer.
Nach einer Weile nahm Ansgar aus seiner Kutte die Leinentücher, in die er das Buch eingeschlagen hatte.
«Um auf deine Frage zurückzukommen», sagte er. «Ich glaube, die Antwort liegt hierin begründet.»
«In dem Buch?»
«Ja. Der Priester hat daraus zitiert, als er dich töten wollte.»
«Warum hat er das getan?»
«Das weiß ich nicht. Ich habe den Mann niemals zuvor gesehen, bevor ich nach Haithabu zurückgekehrt bin.»
Helgi ballte die Hände zu Fäusten. «Er ist ein Mörder!»
Ansgar nickte. «Nach allem, was du erzählt hast …»
«Was bedeuten die Zeichen?» Helgi deutete auf die Pergamente.
Ansgar schüttelte den Kopf. «Ich kann sie kaum noch entziffern. Meine Augen sind mit den Jahren zu schwach geworden. Außerdem sind die Schriftzeichen durch die Feuchtigkeit verwischt. Vielleicht gibt es auf der Insel jemanden, der diese Schrift entschlüsseln kann.»
In dem Moment kehrte Teška zurück. Sie stieg aus dem Wasser und schleppte sich erschöpft zur Lagerstelle. Ohne sich um die anderen zu kümmern, die sie vom Baumstamm aus beobachteten, trocknete sie sich ab, zog sich an und legte sich schlafen.
Helgi blieb an diesem Abend noch lange wach.
9.
Am achten Tag ihrer Reise tauchte im Osten die Insel Hedinsey auf.
Das langgestreckte Eiland hatte die Form eines umgedrehten Löffels. Hedinsey lief zum südlichen Ende flach aus, zum nördlichen hin erhoben sich Hügel, die mit dichten Eichenwäldern bewachsen waren. Hedinsey war der Mutterinsel Rujana vorgelagert, wie ein gewaltiger Wellenbrecher, den die Götter ins Meer gesetzt haben.
Helgi steuerte die im Norden gelegene Hügelkuppe an, die wie ein geschorener Munkischädel über den Baumwipfelnhervorlugte. Hier wollten sie die letzte Nacht verbringen, bevor sie am kommenden Tag Rujana erreichen würden.
Sie befanden sich etwa auf halber Höhe der Insel, als Ansgar plötzlich aufgeregt zum Strand zeigte. «Ein Schiff – da vorne!»
Helgi beschattete seine Augen mit der Hand. Ein etwa dreißig Fuß langes Handelsschiff, eine Knörr mit bauchigem Rumpf, dümpelte führerlos in der Brandung. Das Segel war zerfetzt.
Helgi drehte das Ruder.
«Fahr weiter», herrschte Teška ihn an.
«Warum?»
«Du kannst nichts mehr tun für die Leute.»
Helgi schaute sie überrascht an. Wie konnte sie sich dessen so sicher sein? Er hielt weiter auf das Schiff zu. Etwa einhundert Schritt vor dem Strand stießen sie auf die erste Leiche. Unweit des Bootes spielten die Wellen mit dem leblosen Körper.
Helgi holte das Segel ein. Wind und Strömung trieben sie langsam dem Ufer entgegen. Die Wellen rauschten. Möwen kreischten. Erst jetzt bemerkten sie die vielen Vögel, die über dem Handelsschiff kreisten und sich immer wieder auf den Strand stürzten.
Als sie näher kamen, sahen sie weitere Tote. Leblose Körper lagen zu Dutzenden am Strand oder trieben in der Brandung. Einigen Männern hatte man die Köpfe abgeschlagen, anderen fehlte ein Arm oder ein Bein. Zerbrochene Ruder, Holzstücke und leere Truhen schwammen im Wasser, auch ein Ochse, dem man den Bauch aufgeschlitzt hatte.
«Bitte fahr weiter», sagte Teška.
Aber Helgi konnte sich nicht losreißen von dem Anblick. Sie befanden sich jetzt auf gleicher Höhe mit dem Handelsschiff, das auf einer Sandbank auf Grund gelaufen war, etwa dreißig Schritt vom Ufer entfernt. Sie waren nah genug, um zu erkennen, dass in vielen Leichen gefiederte Pfeile steckten.
Schließlich hatte Helgi genug gesehen. Er legte die Ruder ein, drehte ab und ruderte parallel zum Ufer nach Norden. Nach einer Weile erreichten sie die Inselspitze, wo sie an Land gingen. Das Handelsschiff war von dieser Stelle aus nicht mehr zu sehen. Schweigend richteten sie ihr Nachtlager unterhalb der Steilküste ein.
Die Bilder der Toten gingen Helgi nicht aus dem Kopf.
Ansgar sprach es als Erster aus: «Ich glaube, es waren die Seeräuber.»
Helgi nickte steif. Mit Blick auf Teška fragte er: «Weißt du etwas über diesen Wolfsmann?»
Sie schüttelte den Kopf, sprang auf und fing an, sich wieder auszuziehen.
«Ich spüre, dass du etwas weißt», drängte Helgi.
Ohne eine Antwort zu geben, ging sie zum Wasser.
Helgi und Ansgar blieben ratlos zurück. Sie beschlossen, wegen der Seeräuber mit dem Feuer bis zum Einbruch der Nacht zu warten.
«Ich werde mich auf der Insel umschauen», sagte Helgi schließlich.
Ansgar legte sich in den Sand. «Weck mich, wenn du zurückkommst.»
Helgi humpelte eine Weile
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