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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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ragten Steilhänge empor, deren Kuppen mit dichten Wäldern bewachsen waren. Blaues Wasser, weißer Strand, grüne Wälder und darüber der strahlend blaue Himmel – das waren die Farben der Küste.
    Helgi steuerte das Boot mit der Pinne, während er gleichzeitig das Segel im Wind hielt. Teška hatte sein verwundetes Bein mit Hilfe von Haselstangen geschient. Im Boot konnte er das Bein ausstrecken und brauchte es beim Segeln nicht zu belasten.
    Der Munki betrachtete versonnen die Landschaft. Übermütig rief er den anderen zu: «Als Gott dieses Land erschaffen hat, hat er es mit besonderer Freude getan.»
    «Aber es ist Slawenland», entgegnete Helgi. «Du hast gesagt, Slawen seien Barbaren und Götzendiener.»
    «Was hat das eine mit dem anderen zu tun?», sagte Ansgar und schaute wieder in die Ferne.
     
    Teškas Stimmung veränderte sich, obwohl sie allen Grund gehabt hätte, zuversichtlich zu sein. Mit jedem Wellenschlag und jeder Böe, die das Boot weiter nach Osten brachten, kamen sie Rujana näher. Dennoch zog sich Teška immer weiter zurück. Es schien, als hätten Gewitterwolken einen Schatten über ihre Seele geworfen.
    In der Abenddämmerung stießen sie auf die Mündung eines Flusses, der von den Slawen
Varnova
genannt wurde. Als Helgi fragte, wo ein günstiger Lagerplatz sei, starrte Teška ihn an, als habe er sie aus einem Albtraum geweckt. Anstatt zu antworten, versank sie wieder in ihren Gedanken.
    Helgi fragte sich, was sie bewegte. Es war offensichtlich, dass etwas sie zunehmend belastete.
    Er reffte das Segel und steuerte die Mündung an, die er rudernd durchquerte. Die Varnova schlängelte sich eine Weile durch sumpfiges Gelände mit ausgedehnten Feuchtwiesen zu beiden Seiten. Nach einer Weile weitete sich die Mündung auf der östlichen Flussseite zu einem großen, von dichten Wäldern gesäumten See. Erst einige Meilen weiter flussaufwärts siedelten Menschen, die der Gegend den Namen
roztoc,
den auseinandergehenden Fluss, gegeben hatten.
    Helgi legte am Ufer des Sees an. Ansgar bereitete dasNachtlager vor. Anstatt sich daran zu beteiligen, entkleidete sich Teška und schwamm weit auf den See hinaus. Über ihr kreiste ein Fischadler.
    Helgi ließ sich auf einem umgekippten Baumstamm nieder und beobachtete sie, als Ansgar sich zu ihm gesellte.
    «Sie schwimmt sehr gut», bemerkte er.
    Helgi nickte abwesend. «Sie ist eine Víly.»
    Ansgar hob fragend die Augenbrauen.
    «Víly bedeutet in ihrer Sprache ‹Wassergeist›», erklärte Helgi. «Sie hat es mir erzählt. Ihr Vater hat sie so genannt, weil sie das Wasser liebt. Früher ist sie jeden Tag geschwommen, sogar im Winter, wenn kein Eis auf dem Wasser war.»
    Teška zog in der zunehmenden Dunkelheit draußen auf dem See ihre Bahnen.
    «Du machst dir Sorgen um sie», sagte Ansgar.
    «Sie ist so still geworden.»
    «Was könnte der Grund dafür sein?»
    «Hängt es mit dem Pfeil zusammen?», antwortete Helgi mit einer Gegenfrage.
    «Vielleicht erinnert er sie an etwas.»
    Helgi schaute den alten Mann hilfesuchend an. «Soll ich sie danach fragen? Ich habe Angst, dass die Erinnerungen sie traurig machen könnten.»
    Ansgar schüttelte den Kopf. «Gib ihr Zeit. Sie wird mit dir reden, wenn sie es für richtig hält   …»
    «Aber sie ist eine Frau», warf Helgi ein.
    Ansgar lächelte milde. «Sie ist eine besondere Frau. Es gibt nicht viele Männer, die auf so besonnene Weise einen Pfeil herausoperiert hätten. Dazu gehört Mut und Beherrschung.»
    Helgi pulte Moos von der Rinde und zerrieb es zwischen seinen Fingern. Er wechselte das Thema.
    «Warum hat mich dieser Priester in Haithabu angegriffen?»
    «Interessiert es dich nun doch?»
    «Ich habe in meinem Traum Odin gesehen. Er wird mich in die Unterwelt verbannen, wenn ich meine Feinde nicht töte. Er hat mich einen Feigling geschimpft, weil ich geflohen bin: vor dem Priester und vor dem Wolfsmann. Ich glaube, es sind beides Gestaltenwandler, so etwas wie Werwölfe, Mischwesen.»
    Ansgar rümpfte die Nase. «Gestaltenwandler sind Ausgeburten heidnischer Phantasien – wie euer Gott Odin. Er ist ein Abbild des Hasses, der Zerstörung. Der Allmächtige hingegen   …»
    «Ich will nicht über deinen Gott reden», unterbrach Helgi den Munki. «Ich will wissen, warum ich vor meinen Feinden immer weglaufe.»
    Ansgar ließ sich nicht beirren. «Es ist klüger zu fliehen, als im Kampf zu sterben.»
    «Nein!»
    «Doch!»
    Der Fischadler hatte bei der Jagd Erfolg gehabt und flog zu seinem Horst.

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