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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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schlug erneut zu. Ihr Kopf pendelte hin und her. Haarsträhnen fielen über ihr dreckverschmiertes Gesicht.
    Odo ließ sie zurücksinken. Er überwand seinen Ekel vor dem entblößten Frauenkörper, wickelte ihn aus der Decke und betrachtete ihn.
    Er musste handeln! So wie er es bei dem Arzt beobachtet hatte, ließ er die Finger seiner Rechten in die Frau gleiten. Fleisch, Gewebe und Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Plötzlich stießen seine Fingerspitzen auf etwas Hartes. Er fühlte etwas, das kaum größer war als eine Männerfaust. Odo begann am ganzen Leib zu zittern. Der Kopf des Dämons!
    In dem Moment kehrte Leben in die Frau zurück. Sie stöhnte herzzerreißend. Ihr Bauch blähte sich noch weiter auf. Deutlich erkannte Odo die zuckenden Auswölbungen, die sich auf der Haut abzeichneten. Als eine dunkle Flüssigkeit über seinen Unterarm schwappte, zog er entsetzt die Hand zurück.
    Die Frau stieß einen anhaltenden Schrei aus. Das Geschlecht weitete sich. Der Kopf des Dämons drängte heraus. Odo sah die dünnen, verklebten Haare. Dann kam mit einem weiteren Schwall Flüssigkeit ein Stück des verschrumpelten Gesichts zum Vorschein.
    Odo atmete tief ein, um seinen Puls zu beruhigen. Ernahm die Kiste aus dem Beutel und legte das Buch und das Messer bereit. Er schlug die letzte Seite der Offenbarung auf und las im Fackelschein mit lauter Stimme daraus vor. Dann hob er seinen Blick, schaute durch eines der klaffenden Löcher in den wolkenumtosten Nachthimmel und rief: «Ja, komm, Herr Jesus!»
    Die Frau brüllte vor Schmerzen. Ihre Laute hallten durch die Basilika und übertönten für einen kurzen Augenblick das Brausen des Sturms.
    Plötzlich hörte Odo noch andere Geräusche. Es klang, als würden tonnenschwere Steine mit knirschenden und knackenden Lauten zermahlen. Das Geräusch schwoll bedrohlich an, und mit einem Mal ertönte ein ohrenbetäubendes Donnern, als ein Teil der Kathedrale in sich zusammenbrach.
    Odo wirbelte herum. Dort, wo sich an der Stirnseite der Kirche das Portal befunden hatte, gähnte nun ein riesiges Loch. Die Vorderwand war eingestürzt. Überall lagen Steine, Schutt und riesige Mauerstücke herum. Offensichtlich war eine der Turmspitzen abgefallen und hatte die Wand eingerissen.
    Wieder stieß die Frau unter einer Wehe einen gellenden Schrei aus. Sie warf sich hin und her und trommelte mit den Füßen auf den Boden. Und dann kam der Dämon ans Licht! Sein winziger Körper drängte aus ihrem Leib.
    Es war   … ein Junge!
    Odo packte das schlüpfrige Wesen sofort an einem Beinchen, hob es mit der Linken in die Höhe und hielt in der Rechten das Messer bereit. Eine in sich verdrehte, pulsierende Schnur führte vom Bauch des Knaben in den Mutterleib. Als Odo sie durchtrennte, glitt die Klinge durch das Gewebe wie durch Weißbrot.
    «Schrei!», zischte Odo. «Schrei endlich – Ausgeburt der Hölle!»
    Denn erst durch seinen Schrei würde der Satan zum Leben erwachen.
    Aber das Neugeborene schrie nicht. Es hing leblos in Odos Hand.
     
    Von der Stirnseite der Kathedrale hallte erneut ein bedrohliches Grollen herüber.
    Odo wandte den Kopf und riss erschreckt die Augen auf, als sein Blick durch die eingestürzte Vorderwand auf den Nordturm fiel. Etwas stimmte nicht. Der Turm bewegte sich und kippte langsam auf die Kathedrale zu. Ungeheure Mengen an Schutt durchschlugen das Dach. Schindeln prasselten auf den Boden wie ein infernalischer Hagelschauer. Tausende Steine gingen nieder und jagten eine Lawine aus Staub vor sich her.
    Wie der Finger Gottes näherte sich der fallende Turm der Kathedrale.
    Odo wandte sich dem Knaben zu und brüllte: «Dies irae! Dies illa! – Tag des Zorns! Jener Tag!»
    Er musste das Wesen töten, musste den Dämon vernichten.
    Da durchzuckte plötzlich ein greller Blitz Odos Kopf. Er taumelte. Ein herabfallender Stein hatte ihn getroffen und eine blutige Wunde in seinen Hinterkopf geschlagen. Sein Blick wurde unscharf. Nur noch schemenhaft konnte er den Dämon erkennen.
    Benommen rief er: «Ja, komm, Herr Jesus!»
    Und stach zu.
    Doch die Klinge verfehlte ihr Ziel und streifte nur den Oberschenkel des Kindes.
    Bevor Odo ein zweites Mal zustechen konnte, erhob sich aus den Trümmern eine Gestalt. Es war die Frau. Sie hielt einen Gegenstand in der Hand   – Odo konnte nicht erkennen, was es war. Irgendetwas traf ihn hart an der Schläfe. Odos Griff lockerte sich, und er ließ das Neugeborene fallen.
    Wie aus weiter Ferne drang ein dünner Schrei an seine

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