Das Buch der Sünden
sie am Friedhof vorbeikamen, führte Helgi Teška zur Grabstätte seines Vaters. Gleich neben dem kleinen Hügel war ein zweiter aufgeschichtet worden. Helgi war überzeugt, dass man hier Gullweig bestattet hatte. Die Gräber waren durch eine Reihe von Steinen verbunden, als habeman eine Brücke zwischen den Verstorbenen schließen wollen. Irgendjemand schien die beiden regelmäßig zu besuchen und die Erde vom Unkraut zu befreien.
Vorsichtig wickelte Helgi seinen schlafenden Sohn aus dem Tuch und legte ihn vor die Grabhügel. Dann kniete er nieder, senkte den Kopf und sagte leise: «Auch wenn ihr nicht meine leiblichen Eltern gewesen seid, so bin ich euch doch unendlich dankbar für alles, was ihr für mich getan habt. Odin hat mich in eure Hände gegeben, und ihr habt mich aufgezogen wie euren eigenen Sohn – Einar, mein Vater, und Gullweig, meine Mutter. Nun bin ich zurückgekehrt, um euch meinen Sohn zu bringen. Ich gebe ihm den Namen Einar.»
Als Helgi sich nach einer Weile wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf den Runenstab am Grab seines Vaters. «Besitz stirbt, Verwandte sterben», las Helgi, «und irgendwann stirbst du selbst wie sie. Aber eines weiß ich, das ewig lebt: des Toten Tatenruhm.»
Helgi nahm behutsam seinen Sohn auf, gab ihn Teška und lächelte sie an. Auch sie schenkte ihm einen Blick, der voller Liebe war. Dann verließen sie den Friedhof und kehrten zurück ins Leben.
Nachwort
Das Buch der Sünden
ist eine fiktive Geschichte, die an realen Stätten spielt, von denen die meisten heute noch existieren. Allerdings ist keiner dieser Orte nach mehr als 1100 Jahren noch in der Form erhalten, wie ich sie für das 9. Jahrhundert beschrieben habe. Das gilt für Paris ebenso wie für das Kloster Sankt Gallen oder die Hammaburg, das heutige Hamburg.
Von der Tempelburg Arkona auf der Insel Rügen (Rujana) sind mittlerweile nur noch die Überreste der einstigen Wallanlage zu besichtigen – wegen Abbruchgefahr der Steilküste allerdings nur noch aus der Ferne. Ralswiek (Ralsvik) am Jasmunder Bodden auf Rügen existiert natürlich nach wie vor. War es damals ein bedeutendes Handelszentrum im Ostseeraum, ist es heute eine beschauliche Siedlung. Allerdings ist der kleine See, in dem sich früher der Hafen befand, längst verlandet.
Die Geisterstadt Reric, die in meinem Roman vorkommt, ist mit dem heutigen Rerik nicht identisch. Das alte Reric, das einst von den Dänen zerstört wurde, befand sich an der Wismarbucht in der Nähe des heutigen Groß Strömkendorf gegenüber der Insel Poel. Das alte Hafengelände ist überflutet, aber das ehemalige Becken auf Luftbildern als Vertiefung im flachen Meeresgrund noch zu identifizieren.
Oberirdisch nicht mehr vorhanden ist der slawische Ursprung der heutigen Hansestadt Lübeck am Zusammenfluss von Trave und Schwartau. Dort hatten die WagrierAnfang des 9. Jahrhunderts die Burg L’ubici errichtet, die in der Sprache der Franken «civitas liubice» genannt wurde, was der Überlieferung zufolge etwa die oder der «Liebliche» bedeutet.
Die Grundidee für diese Geschichte ist an einem Ort entstanden, an dessen von Erde und Gras bedeckten Überresten sich lange Zeit hauptsächlich Archäologen erfreuen konnten: Haithabu bei Schleswig, das in diesem Buch Sliesthorp heißt. Allerdings hat man in den vergangenen Jahren einige Gebäude anhand archäologischer Erkenntnisse neu aufgebaut. Zusammen mit dem Wikinger-Museum und dem ab dem 10. Jahrhundert errichteten Halbkreiswall bietet das Ensemble ein hervorragendes Beispiel für erlebbare Geschichte. Ich habe bei meinen Besuchen dort immer wieder gern die Häuser von Helgi, Björn, Bera oder Gizur besichtigt.
Eine ähnlich beeindruckende Anlage wie Haithabu stellt das Archäologische Freilichtmuseum Mecklenburg-Vorpommern in Groß Raden dar, wo auf den Resten einer altslawischen Siedlung ein Tempelort aus dem 9. und 10. Jahrhundert nachgebaut wurde. Dieser Ort spielt im
Buch der Sünden
keine Rolle. Aber er vermittelt, ebenso wie Haithabu, einen Einblick in das Leben der Menschen im frühen Mittelalter.
Bei der Benennung der zahlreichen Handlungsorte habe ich mich weitgehend an die alten, historisch überlieferten Namen und Schreibweisen gehalten. Als Grundlage dafür diente das unter anderem von Rudolf Fischer herausgegebene Büchlein «Namen deutscher Städte». Weitere Anregungen holte ich mir bei mittelalterlichen Chronisten wie Thietmar von Merseburg oder Adam von Bremen. Die Schreibweise
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