Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
übrige ist, was unser unbewußtes Bewußtsein von ihnen wahrgenommen hat.
Ein gelöstes Band, existiert die Seele nicht in sich selbst. Die großen Landschaften gehören dem Morgen an, und wir haben bereits gelebt. Das Gespräch wurde unterbrochen und ist gescheitert. Wer hätte geahnt, daß dies das Leben sein sollte?
Ich verliere mich, wenn ich mich finde, ich zweifle, wenn ich glaube, ich habe nicht, was ich erlangt habe. Ich schlafe, als ginge ich spazieren, und doch bin ich wach. Ich erwache, als hätte ich geschlafen, und ich gehöre mir nicht. Das Leben ist letztlich eine lange Schlaflosigkeit, und alles, was wir denken oder tun, geschieht in einem Zustand luzider Benommenheit. Ich wäre glücklich, wenn ich schlafen könnte. Das denke ich in diesem Augenblick, weil ich nicht schlafen kann. Die Nacht ist eine bleierne Last, die mich darüber hinaus unter der stummen Decke meiner Träume erstickt. Mir ist unwohl in der Seele.
Ist mir wieder wohl, wird es wie immer Tag werden, und wie immer zu spät. Alles schläft und ist glücklich, nur ich nicht. Ich ruhe ein wenig, wage nicht einmal den Versuch zu schlafen. Und die großen Köpfe wesenloser Ungeheuer steigen vom Grund meines Wesens auf. Fernöstliche Drachen des Abgrunds, mit roten Zungen, bar jeder Logik, mit Augen, die leblos auf mein totes Leben starren, das sie nicht anstarrt.
Eine Grabplatte, in Gottes Namen, eine Grabplatte! Legt mir Unbewußtheit und Leben unter Verschluß! Zum Glück zieht durch die offenen Läden des kalten Fensters ein trauriger Streif blassen Lichts allmählich den Schatten vom Horizont. Zum Glück ist es der Tag, der jetzt anbricht. Ich ruhe beinahe in der Unruhe, die mich so ermüdet. Ein Hahn kräht mitten in der Stadt, absurd. Der fahle Tag beginnt in meinem vagen Schlaf. Irgendwann einmal werde ich einschlafen. Rädergeräusch läßt ein Fuhrwerk erahnen. Meine Lider schlafen, ich nicht. Alles ist letztlich Schicksal.
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Ein Major außer Dienst – ich könnte mir nichts Besseres vorstellen. Zu schade, daß man nicht für alle Zeit schlicht Major außer Dienst hat sein können!
Mein Durst nach Ganz-Sein hat mich in diesen Zustand unnützer Trauer versetzt.
Die tragische Belanglosigkeit des Lebens.
Meine Neugier – Schwester der Lerchen.
Die verräterische Angst vor Sonnenuntergängen, scheues Takelwerk der Morgenröte.
Setzen wir uns! Von hier sieht man mehr Himmel. Die Unermeßlichkeit dieser gestirnten Höhen ist tröstlich. Bei ihrem Anblick schmerzt das Leben weniger; der zarte Hauch eines feinen Fächers streift unser vom Leben erhitztes Gesicht.
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Die menschliche Seele ist so unumgänglich Opfer des Schmerzes, daß sie der Schmerz der schmerzhaften Überraschung auch dann ereilt, wenn sie auf ihn hätte gefaßt sein müssen. Ein Mann, der sein Leben lang von Treulosigkeit und Wankelmut als einem typisch weiblichen Verhalten gesprochen hat, wird alle Qual einer traurigen Überraschung erleiden, wenn er sich in der Liebe betrogen sieht – ganz als seien weibliche Treue und Beständigkeit für ihn stets etwas Dogmatisches oder zu Erwartendes gewesen. Denjenigen aber, für den alles hohl und leer ist, wird es wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen, wenn er entdeckt, daß sein Schreiben für nichtig befunden wird und sein Bemühen um Unterweisung ebenso fruchtlos ist wie das Vermitteln seiner Emotionen unmöglich.
Man darf nicht glauben, Menschen, denen solches oder ähnliches Mißgeschick widerfährt, hätten es, als sie in ihren Reden und Schriften die Vorhersehbarkeit und Gewißheit solchen Mißgeschicks zum Ausdruck brachten, an Aufrichtigkeit fehlen lassen. Die Aufrichtigkeit einer intellektuellen Aussage hat nichts zu tun mit der Natürlichkeit eines spontanen Gefühls. Und so wird es wohl sein: Scheinbar kennt die Seele solche Überraschungen nur, damit es ihr nicht an Schmerz fehlt, ihr Schmach widerfährt und auch Kummer nicht ausbleibt als gerechter Ausgleich im Leben. Wir alle vermögen gleichermaßen zu irren und zu leiden. Nur, wer nicht fühlt, leidet nicht; und die Höchsten, Edelsten und Vorausschauendsten sind diejenigen, die erleiden und durchleiden, was sie vorausgesehen und mißachtet haben. Und das nennt man Leben.
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Alles, was uns widerfährt, als Geschehen oder Episoden eines Romans betrachten, den wir nicht mit unseren Augen, sondern mit dem Leben lesen. Allein mit dieser Haltung können wir die Tücke der Tage, die Launen der Ereignisse bezwingen.
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Das
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