Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Überdruß einstellt, gehorcht er, soweit ich dies feststellen konnte, keiner bestimmten Regel. Ich kann einen trägen Sonntag ohne Überdruß verbringen oder kann ihn plötzlich inmitten konzentrierten Arbeitens wie eine bedrohliche Wolke über mir empfinden. Ich kann ihn weder mit meiner gesundheitlichen Verfassung in Verbindung bringen, noch scheint er mir mit Dingen tun zu haben, die augenscheinlich in mir selbst begründet liegen.
Sagte ich, er sei eine verkappte metaphysische Angst, eine tiefe unbekannte Enttäuschung, eine stimmlose Poesie der gelangweilten Seele, die am Fenster zum Leben aufblüht – sagte ich dies oder ähnliches, könnte ich dem Überdruß Farbe verleihen wie ein Kind einer Zeichnung, deren Umrisse es übermalt und auslöscht, doch brächte es mir nicht mehr als klingende Worte, die in den Kellern des Gedankens widerhallen.
Überdruß … Denken ohne zu denken, doch müde vom Denken; fühlen ohne zu fühlen, doch mit der Angst zu fühlen; wollen ohne zu wollen, doch mit dem Ekel, der einen wollen macht – all dies steckt im Überdruß, ohne Überdruß zu sein, ist bestenfalls eine Paraphrase von oder eine Metapher für ihn. In der unmittelbaren Empfindung ist dies, als sei über dem Graben der Seelenburg die Zugbrücke hochgegangen und wir könnten das umliegende Land nur mehr betrachten und nicht mehr betreten. Etwas in uns schneidet uns von uns selbst ab, und dieses trennende Element steht ebenso still wie wir, ist ein Graben schmutzigen Wassers um unsere Unkenntnis.
Überdruß … Erleiden ohne Leiden, Wollen ohne Willen, Denken ohne Gedanken … Er ist wie ein Besessensein von einem negativen Dämon, wie ein Verhextsein von nichts. Es heißt, Hexer und Magier könnten mit Abbildern von uns, die sie mißhandeln, uns diese Mißhandlungen durch einen astralen Transfer zuteil werden lassen. Transponiere ich dieses Abbild, erscheint mir der Überdruß als die unheilvolle Widerspiegelung der nicht auf ein Abbild von mir, sondern auf seinen Schatten angewandten Zauberkünste eines Märchendämons. Mein innerer Schatten, das Äußere des Inneren meiner Seele wird mit Zetteln beklebt oder von Nadeln durchstochen. Ich bin wie der Mann, der seinen Schatten verkauft hat [48] , oder besser, wie der Schatten des Mannes, der ihn verkauft hat.
Überdruß … Ich arbeite viel. Ich erfülle das, was die Moralisten des Handelns als meine gesellschaftliche Pflicht bezeichnen würden. Ich erfülle diese Pflicht oder dieses Schicksal ohne sonderliche Anstrengung und ohne ersichtliches Unvermögen. Doch zuweilen kommt mir, inmitten der Arbeit oder einer Ruhepause, die mir den erwähnten Moralisten nach zusteht und zur Freude gereichen sollte, die Galle der Trägheit in der Seele hoch – und ich bin müde, nicht der Arbeit oder des Ruhens, sondern meiner selbst.
Meiner müde, weshalb, wenn ich nicht an mich gedacht habe? Wessen sonst, wenn ich an nichts Bestimmtes gedacht habe? Das Geheimnis des Weltalls, das sich über meine Buchführung legt oder auf meine nachlässige Haltung? Der universelle Lebensschmerz, der sich ganz plötzlich in meiner mediumistischen Seele individualisiert hat? Wozu jemanden so adeln, von dem man nicht weiß, wer er ist? Überdruß ist ein Gefühl der Leere, ein Hunger ohne Appetit, ebenso edel wie die Empfindungen von Gehirn oder Magen, wenn man zu viel geraucht oder schlecht verdaut hat.
Überdruß … Wer weiß, vielleicht ist er die tiefinnere Unzufriedenheit der Seele, weil wir ihr keinen Glauben gelassen haben, die Untröstlichkeit des traurigen Kindes in unserem Inneren, weil wir ihm nicht das göttliche Spielzeug gekauft haben. Vielleicht ist er die Unsicherheit desjenigen, der eine Hand braucht, die ihn leitet, und der auf dem schwarzen Weg der tiefen Empfindung nichts anderes fühlt als die stille Nacht des Nicht-denken-Könnens, als die leere Straße des Nicht-fühlen-Könnens …
Überdruß … Wer Götter hat, verspürt nie Überdruß. Überdruß ist ein Mangel an Mythologie. Wer keinen Glauben hat, dem ist selbst der Zweifel unmöglich, selbst seinem Skeptizismus fehlt die Kraft zum Mißtrauen. Ja, das ist der Überdruß: der Verlust der seelischen Fähigkeit, sich Illusionen zu machen, das gedankliche Fehlen der inexistenten Leiter, auf der er sicher und bestimmt zur Wahrheit aufsteigen kann …
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Metaphorisch gesprochen kenne ich das Gefühl, zu viel gegessen zu haben. Ich kenne es mit meinen Sinnen, nicht mit meinem Magen. Es gibt Tage,
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