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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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die ich gestern nicht kannte.
    Ich nehme jedoch an, daß es sich hierbei um eine Übertragung handelt, daß die Sehnsucht, die ich verspüre, nicht wirklich meine eigene ist, noch wirklich abstrakt, sondern nur die aufgefangene Emotion irgendeines Dritten, für den diese bei mir literarischen Emotionen buchstäblich vorhanden sind, wie Vieira sagen würde. Meine mutmaßlichen Gefühle also schmerzen und ängstigen mich, und meine Phantasie und »Andersart« ersinnen und verspüren jene Sehnsucht, die mir Tränen in die Augen treibt.
    Und immer wieder erklingen mit einer Beständigkeit, die aus der Tiefe der Welt kommt, mit einer Hartnäckigkeit, die metaphysisch übt, die Tonleitern der Klavierschülerin in der Wirbelsäule meiner Erinnerung. Sie sind die Straßen von einst mit anderen Leuten, die gleichen Straßen, die heute anders sind; Tote, die zu mir sprechen durch die Transparenz ihrer Abwesenheit; Schuldgefühle wegen Getanem oder Unterlassenem, Bachgeplätscher in der Nacht, Geräusche unten im stillen Haus.
    Schreien möchte ich in meinem Kopf. Sie anhalten, zerbrechen, zermalmen, die unausdenkliche Grammophonplatte, die immerfort spielt in mir, wo sie nicht hingehört, mich foltert, und ich kann nichts tun. Meine Seele, ein Gefährt mit fremden Insassen, soll anhalten, mich aussteigen lassen und ohne mich weiterfahren. Ich werde verrückt bei diesem Zuhören-Müssen. Und doch bin letztlich ich es, in meinem hassenswert sensiblen Gehirn, in meiner dünnen Haut, meinen blankliegenden Nerven, der diese Tonleitern, diese Tasten spielt, o entsetzliches, urpersönliches Piano unserer Erinnerung!
    Und unablässig, unablässig, als hätte sich ein Teil meines Gehirns selbständig gemacht, erklingen die Tonleitern unter und über mir, in dem ersten Haus, in dem ich lebte, als ich nach Lissabon kam.

267
    Es ist der letzte Tod von Kapitän Nemo. Bald sterbe auch ich.
    Meine ganze Kindheit wurde in diesem Augenblick der Möglichkeit ihres Fortdauerns beraubt.

269
    Ich habe die Pickwick Papers bereits gelesen, und das ist eine der großen Tragödien meines Lebens. (Ich kann sie nicht noch einmal zum ersten Mal lesen.)

270
    Die Kunst befreit uns illusorisch vom Schmutz des Seins. Solange wir die Leiden und die Schmach Hamlets, des Prinzen von Dänemark, fühlen, fühlen wir die unseren nicht – abscheulich, weil sie die unseren, und abscheulich, weil sie abscheulich sind.
    Liebe, Schlaf, Drogen und Rauschmittel sind Elementarformen der Kunst, oder besser gesagt, sie bewirken das gleiche. Doch kennen Liebe, Schlaf und Drogen die Desillusion. Die Liebe wird man leid, oder sie enttäuscht. Aus dem Schlaf erwacht man, und hat man geschlafen, hat man nicht gelebt. Die Drogen bezahlt man mit dem Ruin genau des Körpers, dem sie als Stimulanz dienten. Die Kunst aber kennt keine Desillusion, denn die Illusion ist von vornherein einkalkuliert. Aus der Kunst gibt es kein Erwachen, denn in ihr schlafen wir nicht, auch wenn wir in ihr träumen. Die Kunst fordert von uns für ihren Genuß weder einen Preis noch eine Strafe.
    Den Genuß, den Kunst uns bietet, müssen wir, da er in gewisser Weise nicht der unsere ist, weder bezahlen noch bereuen.
    Unter Kunst verstehen wir alles, was uns entzückt, ohne daß es uns gehört – eine hinterlassene Spur, ein einem anderen gewährtes Lächeln, ein Sonnenuntergang, ein Gedicht, das objektive Universum.
    Besitzen ist verlieren. Fühlen, ohne zu besitzen, ist bewahren, denn es bedeutet, die Essenz einer Sache zu erfassen.

271
    Nicht die Liebe lohnt der Mühe, wohl aber ihr Umfeld …
    Die unterdrückte Liebe erhellt die Natur der Liebe weit mehr als die gelebte Liebe. Jungfräulichkeit kann der Schlüssel zu einem tieferen Verstehen sein. Handeln lohnt, aber verwirrt. Besitzen heißt besessen sein und sich deshalb verlieren. Nur die Vorstellung erlangt, ohne Schaden zu nehmen, die Kenntnis der Wirklichkeit.

272
    Christus ist eine Form der Emotion.
    Im Pantheon ist Platz für all die Götter, die sich gegenseitig ausschließen, und alle haben ihren Thron und ihre Macht. Jeder einzelne kann alles sein, denn hier gibt es keine Grenzen, nicht einmal logische, und durch die Gegenwart einiger Unsterblicher kommen wir in den Genuß der Gleichzeitigkeit verschiedenster Unendlichkeiten und unterschiedlichster Ewigkeiten.

273
    Die Geschichte verweigert Gewißheit. Es gibt Zeiten der Ordnung, in denen alles niedrig, und Zeiten der Unordnung, in denen alles erhaben ist. Zeiten des Niedergangs

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