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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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unsere Seele, die eine an ihre Tiefe, die andere an ihre Aufmerksamkeit. Die erste ist die Dichtung, die zweite der Roman. Die erste lügt ihrer Anlage nach; die zweite lügt ihrer Absicht nach. Die eine gibt vor, uns die Wahrheit über Zeilen zu vermitteln, die sich strikt an eine Metrik halten, welche die Natur der Sprache Lügen straft; die andere gibt vor, uns die Wahrheit durch eine Wirklichkeit zu vermitteln, von der wir alle genau wissen, daß es sie nie gab.
    Täuschen heißt lieben. Wann immer ich ein hübsches Lächeln oder einen bedeutungsvollen Blick sehe, überlege ich sofort – einerlei, wem Lächeln oder Blick gehören –, wer wohl in der Tiefe jener Seele, deren Gesicht uns zulächelt oder anblickt, der Politiker ist, der uns da kaufen will, die Dirne, die will, daß wir sie kaufen. Doch der Politiker, der uns kauft, hat zumindest an seinem Kauf Freude; und die Dirne freut sich zumindest, wenn wir sie kaufen. Ob wir wollen oder nicht, wir können der universalen Brüderlichkeit nicht entkommen. Wir lieben alle einander, und die Lüge ist der Kuß, den wir tauschen.

261
    Zuneigung bleibt bei mir immer oberflächlich, das allerdings tut sie aufrichtig. Ich bin immer ein Schauspieler gewesen, und zwar ein hervorragender. Wann immer ich geliebt habe, habe ich getan, als liebte ich, und selbst mir gegenüber tue ich so.

262
    1 .  12 .  1931
    Heute habe ich etwas Absurdes und dennoch Untrügliches wahrgenommen. Mich durchfuhr wie ein Blitz, daß ich niemand bin. Niemand, abolut niemand. Als der Blitz aufleuchtete, lag dort, wo ich eine Stadt vermutete, eine verlassene Ebene; und das düstere Licht, das mir mich zeigte, enthüllte mir keinen Himmel über ihr. Noch ehe die Welt war, nahm man mir die Möglichkeit zu sein. Wenn ich Mensch werden mußte, dann ohne mich, ohne mein Ich.
    Ich bin die Umgebung einer inexistenten Stadt, der weitschweifige Kommentar zu einem nie geschriebenen Buch. Ich bin niemand, niemand. Ich vermag nicht zu fühlen, vermag nicht zu denken, vermag nicht zu wollen. Ich bin eine Figur aus einem noch zu schreibenden Roman, die vorüberweht, verstreut in alle Winde, ohne je gewesen zu sein, einer der Träume von jemandem, der mich nicht zu vollenden verstand.
    Ich denke immer, fühle immer; doch mein Denken enthält keine Gedanken, mein Gefühlsleben keine Gefühle. Ich falle oben aus der Falltür durch den ganzen unendlichen Raum, in einem Sturz ohne Richtung, unendlichfach und leer. Meine Seele ist ein schwarzer Mahlstrom, ein weites Taumeln rings um die Leere, Bewegung eines endlosen Ozeans rund um ein Loch im Nichts, und in den Gewässern, die eher ein Kreisen als Gewässer sind, treiben die Bilder all dessen, was ich gesehen und gehört habe auf der Welt – strudeln Häuser, Gesichter, Bücher, Kisten, Spuren von Musik und Silben von Stimmen in einem düsteren, unauslotbaren Wirbel.
    Und in all dem bin ich, wahrhaft ich, der Mittelpunkt, der einzig in der Geometrie des Abgrunds existiert: Ich bin das Nichts, umkreist um des Kreisens willen, und existiere nur, weil jeder Kreis einen Mittelpunkt besitzt. Ich, wahrhaft ich, bin der Brunnen ohne Wände – doch glitschig, wie Brunnenwände sind –, der Mittelpunkt von allem, umgeben von Nichts.
    Er steckt in mir, nicht wie der lachende Dämon im Menschen, sondern das Gelächter der Hölle selbst, der krächzende Wahnsinn des toten Weltalls, der kreisende Leichnam des physischen Raumes, das Ende aller Welten, schwarz wehend im Wind, formlos, zeitlos, ohne einen Gott, der ihn schuf, ohne sich selbst und in finsterster Finsternis kreisend, unmöglich, einzigartig, alles.
    Denken können! Fühlen können!
    Meine Mutter starb sehr früh, und ich habe sie nicht kennengelernt …

263
    1 .  12 .  1931
    Mit meinem ausgeprägten Hang zum Überdruß ist es verwunderlich, daß ich mich bis jetzt noch nie gefragt habe, was es damit auf sich hat. Meine Seele befindet sich heute tatsächlich in diesem Zwischenzustand, in dem mir weder das Leben noch sonst etwas zusagt. Und da mir plötzlich einfiel, daß ich die Ursache für meinen Überdruß nie ergründet habe, habe ich beschlossen, ihn vermittels meiner Eindrücke und Gedanken zu analysieren, selbst wenn die Analyse, die mir hier vorschwebt, etwas Künstliches an sich hat.
    Ich weiß nicht wirklich, ob der Überdruß nur die wache Entsprechung der schläfrigen Trägheit des Tagediebs ist oder nicht doch etwas Edleres als dessen Passivität. Auch wenn sich bei mir häufig

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