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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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an denen hat etwas in mir zu viel gegessen. Dann bin ich im Körper schwer und in der Bewegung unbeholfen und verspüre den Wunsch, mich nicht von der Stelle zu rühren.
    Doch bei solchen Gelegenheiten pflegt sich – gleichsam als lästiges Ereignis – ein Rest erloschener Einbildungskraft aus meiner ungestörten Schläfrigkeit zu erheben. Ich schmiede Pläne aus dem Fundus der Unkenntnis, baue Dinge auf dem Fundament von Hypothesen und bin geblendet von all dem, was nie geschehen wird.
    In solch befremdlichen Stunden gerät mir nicht nur mein materielles, sondern auch mein moralisches Leben zu einem reinen Anhängsel – ich vernachlässige den Gedanken an die Pflicht, aber auch den Gedanken an das Sein, und das gesamte Universum ermüdet mich physisch. Ich schlafe, was ich kenne, und träume so intensiv und gleichmäßig, daß es mich in den Augen schmerzt. Ja, in diesen Stunden weiß ich mehr über mich, als ich je wußte, und bin ganz allein alle Mittagsruhen aller Bettler unter den Bäumen des Landgutes eines Herrn Niemand.

265
    Der Gedanke an Reisen lockt mich stellvertretend als der Gedanke schlechthin, um jemanden, der ich nicht bin, zu locken. All das weit Schaubare der Welt zieht wie ein vielfarbener Überdruß durch meine wache Phantasie; ich entwerfe einen Wunsch wie einer, der nicht einen Finger mehr rühren will, und das vorweggenommene Müdesein möglicher Landschaften drückt wie ein rauher Wind die Blume meines welken Herzens nieder.
    Wie mit den Reisen, so mit den Büchern, und wie mit den Büchern, so mit allem übrigen … Ich träume von einem gelehrten Leben in stiller Gemeinschaft mit den Alten und den Modernen, einem Leben, in dem ich meine Emotionen durch fremde Emotionen neu beleben und mich sättigen könnte an widersprüchlichen Gedanken, im Widerspruch zu den Denkern und Fast-Denkern, jener Mehrheit der Schreibenden. Doch allein der Gedanke ans Lesen vergeht mir, kaum nehme ich ein Buch vom Tisch, die Anstrengung des Lesens vergällt mir die Lust am Lesen … und mit dem Reisen ergeht es mir ebenso, kaum nähere ich mich einem Ort, von dem aus ich aufbrechen könnte. Und so kehre ich zurück zu den beiden nichtigen Dingen, deren ich mir, ebenfalls nichtig, sicher bin: zum Alltag eines unbekannten Vorübergehenden und zu den Träumen eines Schlaflosen.
    Und wie mit den Büchern, so mit allem übrigen … Kaum kann ich von etwas träumen, das den stillen Lauf meiner Tage tatsächlich unterbräche, sehe ich heftig protestierend zu meiner Sylphide auf, jenem armen Geschöpf, das, hätte es singen gelernt, vielleicht eine Sirene wäre.

266
    3 .  12 .  1931
    Während meiner ersten Zeit in Lissabon erklangen aus der Etage über uns beständig Tonleitern auf einem Klavier, das eintönige Üben eines Mädchens, das ich nie zu Gesicht bekam. Heute muß ich feststellen, daß ich in den Kellern meiner Seele, wenn die Tür dort unten aufgeht, dank mir unbekannter Infiltrationsvorgänge noch immer die auf dem Klavier heruntergehämmerten Tonleitern des Mädchens höre, das längst eine Frau ist oder tot und eingeschlossen an einem weißen Ort, wo dunkel Zypressen grünen.
    Ich bin nicht mehr das Kind von damals; das Geklimper aber ist in meiner Erinnerung, wie es in der Wirklichkeit war; und wenn es von dort erklingt, wo es vorgibt zu schlafen, ist es die immer gleiche langsame Fingerübung, die immer gleiche rhythmische Monotonie. Wenn ich es fühle oder darüber nachdenke, überkommt mich eine vage, beängstigende, mir eigene Traurigkeit.
    Ich beweine nicht den Verlust meiner Kindheit; ich weine, weil alles, einschließlich meiner Kindheit, verloren ist. Das abstrakte Verrinnen der Zeit, nicht das konkrete meiner eigenen Tage, schmerzt mich körperlich in meinem Gehirn, das unaufhörliche, unfreiwillige Wiederholen der Tonleitern auf dem Klavier von oben, erschreckend anonym und fern. Das große Geheimnis, daß nichts von Dauer ist, hämmert und wiederholt etwas, das nicht zu Musik gedeiht, sondern auf dem absurden Grund meiner Erinnerungen Sehnsucht bleibt.
    Unmerklich entsteht in meiner Vorstellung der kleine Salon, den ich nie sah, in dem die Klavierschülerin, die ich nicht kannte, noch heute längst verhallte, immergleiche Tonleitern sorgfältig Finger um Finger übt. Ich sehe es, sehe mehr und mehr, rekonstruiere sehend. Und vor meinem inneren Auge entsteht aus meinem staunenden Betrachten die gesamte Wohnung im oberen Stockwerk, an die ich mich heute mit einer Sehnsucht erinnere,

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