Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
träume, oder ob Traum und Leben bei mir nicht sich einander überschneidende, vermischende, gegenseitig durchdringende Dinge sind, die mein bewußtes Sein bilden.
Zuweilen befällt mich mitten im tätigen Leben, in dem ich selbstverständlich eine ebenso klare Vorstellung von mir habe wie jeder andere auch, ein sonderbares Gefühl des Zweifels, und ich weiß nicht, existiere ich oder bin ich vielleicht der Traum eines anderen; fast körperlich kann ich mir vorstellen, ich sei eine Romanfigur und bewegte mich in den weiten Wellen eines Stils, in der vielschichtigen Wahrheit großen Erzählens.
Ich habe oftmals bemerkt, daß bestimmte fiktive Gestalten für uns eine so herausragende Stellung einnehmen, wie es unsere Bekannten und Freunde, diejenigen, die im sichtbaren, wirklichen Leben mit uns sprechen und uns zuhören, niemals könnten. Und das hat zur Folge, daß ich darüber nachsinne, ob nicht alles in diesem Weltgetriebe eine Abfolge von Träumen und Romanen ist, die wie Schachteln ineinanderstecken, kleine in größeren, die einen in den anderen, und immer so weiter und immer so fort, und das Ganze ist eine Geschichte aus lauter Geschichten, eine »1001 Nacht«, die trügerisch in der einen, nie endenden Nacht spielt.
Wenn ich denke, erscheint mir alles absurd; wenn ich fühle, erscheint mir alles fremd; wenn ich etwas will, will etwas in mir nichts. Wann immer etwas handelt in mir, begreife ich, daß nicht ich es war. Wenn ich träume, ist es, als schreibe man mich. Wenn ich fühle, ist es, als male man mich. Wenn ich will, ist es, als packe man mich auf ein Gefährt wie eine Ware, die man auf den Weg bringt, und ich lasse mich mit einer Bewegung befördern, die ich für meine eigene halte, an ein Ziel, dem ich mich verweigere, bis ich dort bin.
Wie verwirrend dies alles! Wieviel besser doch ist sehen als denken und wieviel besser lesen als schreiben! Was ich sehe, kann mich trügen, aber ich betrachte es nicht als mein. Was ich lese, kann mich bedrücken, aber ich muß mich nicht sorgen, es geschrieben zu haben. Wie schmerzhaft ist doch alles, wenn wir es als bewußt Denkende bedenken, als Kopfmenschen, deren Bewußtsein jene zweite Stufe erreicht hat, durch die wir wissen, was wir wissen! Obgleich der Tag wunderschön ist, kann ich nicht aufhören, so zu denken … Denken oder fühlen oder etwa noch ein Drittes zwischen den abgeräumten Bühnenbildern? Überdruß des Zwielichts und der Verwirrung, geschlossene Fächer und die Müdigkeit, gelebt haben zu müssen …
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Jung noch, gingen wir einher unter den hohen Bäumen, dem unbestimmten Rauschen des Waldes. Die Lichtungen, vor denen wir auf unserem ziellosen Weg unversehens standen, wurden im Mondschein zu Seen, und ihre Ufer, ein Gewirr von Zweigen, waren dunkler als die Nacht selbst. Die unbestimmte Brise großer Wälder atmete hörbar in den Wipfeln. Wir sprachen über Unmögliches; und unsere Stimmen waren Teil der Nacht, des Mondscheins und des Waldes. Wir hörten sie, als gehörten sie anderen.
Der ungewisse Wald war nicht ohne jeden Weg. Unsere Schritte schlugen instinktiv unbekannte Pfade ein und schlängelten sich zwischen den Schattensprenkeln und dem unbestimmten Flimmern des harten, kalten Mondscheins hindurch. Wir sprachen über Unmögliches, und die ganze wirkliche Landschaft war ebenso unmöglich. 6
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Wir vergöttern die Vollkommenheit, da sie für uns unerreichbar ist; erreichten wir sie, wiesen wir sie von uns. Das Vollkommene ist unmenschlich, denn das Menschliche ist unvollkommen.
Der dumpfe Haß auf das Paradies – und dann, wie bei der armen Unglücklichen, das Hoffen auf eine ländliche Landschaft im Himmel. Denn weder abstrakte Ekstasen noch Wunder des Absoluten können eine fühlende Seele bezaubern; es sind vielmehr die Hütten und Hänge der Berge, die grünen Inseln blauer Meere, die Wege unter Bäumen und geruhsam lange Stunden auf alten Gütern, selbst wenn wir sie nie besitzen. Wenn es keine Erde im Himmel gibt, ist es besser, es gibt keinen Himmel. Dann soll alles nichts sein, und der Roman ohne Handlung soll enden.
Um Vollkommenheit zu erreichen, bedürfte es einer Kälte, die nicht menschlich ist, mit ihr aber würde das menschliche Herz erfrieren, das die Vollkommenheit lieben könnte.
Andächtig bewundern wir das Streben großer Künstler nach Vollkommenheit. Wir lieben dieses sich Annähern ans Vollkommene, insbesondere aber, weil es nur ein Annähern ist.
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Wie tragisch, nicht an die menschliche
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