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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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Gegenstände erliegen, nehmen sie so glücklich von ihnen Besitz wie ein Kind, das Muscheln am Strand sammelt – ein Bild, das mehr als jedes andere das ganze kindliche Glück widerspiegelt. Muscheln am Strand auflesen! Nie sind zwei gleich für ein Kind! Es schläft mit den beiden schönsten ein in der Hand, und wenn es sie verliert oder man sie ihm wegnimmt – was für ein Verbrechen! ihm Sichtbares seiner Seele zu nehmen! Hand an seinen Traum zu legen! –, weint es wie ein Gott, dem man sein eben geschaffenes Universum wegnimmt.

296
    Die Sucht nach dem Absurden und Paradoxen ist die tierische Freude der Traurigen. So wie ein gewöhnlicher Mensch aus Lebensfreude Unsinn redet und aus Übermut anderen auf die Schulter klopft, schlagen die zu Begeisterung und Fröhlichkeit Unfähigen intellektuelle Purzelbäume und vollziehen so, auf ihre Weise, die Bewegung des Lebens.

297
    Reductio ad absurdum ist eines meiner Lieblingsgetränke.

298
    Alles ist absurd. Der eine verwendet sein Leben darauf, Geld zu verdienen, das er spart, und hat weder Kinder, denen er es hinterlassen kann, noch die Hoffnung, daß irgendein Himmel einen transzendenten Betrag für ihn bereithalten könnte. Ein anderer strebt nach postumem Ruhm und glaubt nicht an jenes Überleben, das ihm von diesem Ruhm Nachricht bringen könnte. Wieder ein anderer verausgabt sich auf der Jagd nach Dingen, die er nicht wirklich möchte […]
    Der eine liest, um zu lernen, vergeblich. Ein anderer genießt, um zu leben, ebenfalls vergeblich.
    Ich fahre in der Straßenbahn und beobachte, wie es meine Art ist, geruhsam und in allen Einzelheiten, die Personen, die ich vor Augen habe. Für mich sind diese Einzelheiten Dinge, Stimmen, Sätze. Das Kleid des jungen Mädchens vor mir betrachte ich unter verschiedenen Gesichtspunkten: dem Stoff, aus dem es gefertigt ist, und der Arbeit, die es erforderte – denn ich sehe es als Kleid und nicht als Stoff –, und in der feinen Stickerei, die den Halskragen säumt, sehe ich wiederum die Seidenfäden, mit denen man sie anfertigte, und die Arbeit, die diese Stickerei kostete. Und unvermittelt wie in einem Lehrbuch für Volkswirtschaft erstehen vor mir die Fabriken und die Arbeitsleistungen – die Fabrik, in der der Stoff hergestellt wurde; die Fabrik, in der die dunkleren Seidenfäden gewebt wurden, die den Stoff mit kleinen verdrehten Dingen verzieren, wo er den Hals umschließt; und ich sehe die einzelnen Abteilungen der Fabriken, die Maschinen, die Arbeiter, die Näherinnen, mein nach innen gekehrter Blick dringt in die Büros, ich sehe die Geschäftsführer, um Gelassenheit bemüht, und verfolge in den Hauptbüchern die Buchhaltung des Ganzen; doch nicht nur das: Ich habe darüber hinaus das häusliche Leben der Menschen vor Augen, deren soziales Leben sich in diesen Fabriken und Büros abspielt … Die ganze Welt bietet sich mir dar, nur weil ich vor mir um einen braunen Hals, mit einem mir unbekannten Gesicht auf der anderen Seite, eine regelmäßig unregelmäßige dunkelgrüne Bordüre auf dem Hellgrün eines Kleides wahrgenommen habe.
    Das ganze soziale Leben liegt vor meinen Augen.
    Darüber hinaus ahne ich die Lieben, die Sekrete [sic] und Seelen all derer, die dafür gearbeitet haben, daß diese Frau, die vor mir in der Elektrischen sitzt, um ihren sterblichen Hals die verschlungene Banalität eines dunkelgrünen Seidenzwirns auf einem weniger dunkelgrünen Stoff tragen kann.
    Mich schwindelt. Die Bänke der Elektrischen, aus einem kräftigen, engmaschigen Strohgeflecht, befördern mich in ferne Regionen, vervielfältigen sich zu Industrien, Arbeitern, Arbeiterwohnungen, Lebensläufen, Wirklichkeiten, zu allem.
    Ich steige erschöpft und wie mechanisch aus. Ich habe soeben das ganze Leben gelebt.

299
    Wann immer ich reise, reise ich intensiv. Eine Zugfahrt nach Cascais ermüdet mich, als hätte ich in dieser kurzen Zeit Landschaften und Städte von vier, fünf Ländern durchquert.
    In jedem Haus, an dem ich vorüberfahre, in jeder Villa, in jedem einsamen, mit Stille und Weiß gekalktem Landhaus fühle ich mich für Augenblicke leben, zunächst glücklich, dann gelangweilt und zu guter Letzt müde; doch kaum habe ich eines dieser Häuser verlassen, verspüre ich bereits eine heftige Sehnsucht nach der Zeit, in der ich dort lebte. Und so wird jede meiner Reisen zu einer schmerzlich-glücklichen Ernte großer Freuden, beachtlichen Überdrusses und zahlloser erdachter Sehnsüchte.
    Und während ich an

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