Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
schließen über geschlossenen Augen in warmer Sonne und nahe grünem Gras, sondern der Tod, der hinausgeht über unser Leben, der selbst Leben ist – tote Gegenwart in irgendeinem Gott, dem unbekannten Gott der Religion meiner Götter.
Auch der Ganges fließt durch die Rua dos Douradores. Alle Epochen sind versammelt in diesem engen Zimmer – das Gemisch […], die bunte Abfolge von Sitten und Gebräuchen, die Unterschiede zwischen den Völkern, die unendliche Vielfalt der Nationen.
Und hier, in dieser einen Straße, kann ich verzückt auf den Tod warten zwischen Schwertern und Zinnen.
421
Reise im Kopf
Von meinem vierten Stock aus, über dem Unendlichen, in der klaren Vertrautheit des anbrechenden Abends, am Fenster vor den aufgehenden Sternen, schweifen, im rhythmischen Einklang mit der sich öffnenden Entfernung, meine Träume hin zu unbekannten, gedachten oder auch nur unmöglichen Ländern.
422
Dann scheint von Osten her blond der goldene Mond. Seine Lichtspur auf dem breiten Fluß: Schlangen auf dem Weg zum Meer.
423
Auf breiten, exotisch beflaggten Straßen, unter prunkvollen Thronhimmeln an Orten der Rast nahmen in verschwenderischem Atlas und hilflosem Purpur die Imperien ihren Weg in den Tod. Baldachine zogen vorüber. Dem festlichen Geleit öffneten sich düstere Straßen und lichte. Kalt blitzten die Waffen in der quälenden Langsamkeit nutzloser Märsche. Vergessen waren die Gärten vor den Städten, die Wasserspiele, nur Wiederaufnahme noch alles Verlorenen, waren ein fernes Lachen in hellen Erinnerungen, nein, die Statuen längs der Alleen waren stumm, und auch die gelben Reihen konnten den Herbst mit seinen die Gräber säumenden Farben nicht überstrahlen. Hellebarden entschieden über den Glanz von Epochen, grünschwarz waren die Gewänder, blaßviolett, granatrot; verlassen lagen die Plätze, zu viele Fluchten, und nie mehr geht auf den Blumenrabatten, zwischen denen wir gehen, der Schatten der Aquädukte dahin.
Trommeln – Donnerhall, in der zaghaften Stunde.
424
Tag für Tag geschehen in der Welt Dinge, die sich nicht erklären lassen mit den Gesetzmäßigkeiten, die wir von den Dingen kennen. Tag für Tag werden sie erwähnt und wieder vergessen, und dasselbe Rätsel, das sie brachte, nimmt sie wieder mit, verwandelt ihr Geheimnis in Vergessen. So lautet das Gesetz, demnach alle nicht erklärbaren Dinge dem Vergessen anheimfallen müssen. Die sichtbare Welt nimmt im Sonnenlicht ihren Lauf. Das Fremde aber beobachtet uns aus dem Schatten heraus.
425
Träumen ist mir zur Strafe geworden. Ich bin in meinen Träumen zu solcher Klarheit gelangt, daß ich alles Geträumte als wahr ansehe. Somit hat es für mich seinen Wert verloren.
Träumen, ich sei berühmt? Sofort verspüre ich dieses Ausgesetztsein, das mit dem Ruhm einhergeht, diesen Verlust von Privatheit und Anonymität, der Ruhm so schmerzlich macht für uns.
426
5 . 4 . 1933
Unsere größte Angst für belanglos erachten, nicht nur im Leben des Weltalls, sondern auch in dem unserer Seele, deutet auf Weisheit hin. Dies zu tun, wenn diese Angst uns ergreift, bedeutet Weisheit. Leiden wir, erscheint uns der menschliche Schmerz maßlos. Doch ist weder der menschliche Schmerz maßlos – denn nichts Menschliches ist maßlos –, noch ist unser Schmerz mehr als ein von uns empfundener Schmerz.
Wie oft bleibe ich nicht stehen, niedergezwungen von einem an Wahnsinn grenzenden Überdruß oder einer noch darüber hinausgehenden Angst, zögere, ehe ich aufbegehre, stehe zögernd da, ehe ich mich zum Gott erhebe. Der Schmerz, das Geheimnis der Welt nicht zu kennen, der Schmerz, nicht geliebt, der Schmerz, ungerecht behandelt, der Schmerz, vom Leben erstickt, gefesselt, niedergezwungen zu werden, Zahnschmerzen, der Schmerz, weil uns der Schuh drückt – wer kann sagen, welcher von all diesen Schmerzen der schlimmste ist, für ihn selbst, für einen anderen oder die Mehrzahl unserer Mitmenschen?
Manche, die mit mir sprechen und mich hören, halten mich für unsensibel. Ich selbst jedoch halte mich für sensibler als die umfangreiche Mehrheit der Menschen. Ich bin ein Sensibler, der sich kennt und infolgedessen auch die Sensibilität.
Ach, es ist nicht wahr, das Leben ist nicht schmerzlich, und es ist auch nicht schmerzlich, an das Leben zu denken. Wahr aber ist, daß unser Schmerz nur echt und schlimm ist, wenn wir vorgeben, er sei es. Wenn wir natürlich bleiben, geht er vorüber, wie er gekommen, schwindet, wie er
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