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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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wirklich ist. Daß Gesetze die Verknüpfung von Vorstellungen wie auch von allen übrigen geistigen Vorgängen steuern, spricht unserer angeborenen Disziplinlosigkeit hohn.

Zufallstagebuch
    Alle Tage mißhandelt mich die Materie. Meine Sensibilität ist eine Flamme im Wind.
    Ich gehe durch eine Straße und lese in den Gesichtern der Passanten nicht deren wirklichen Ausdruck, sondern den Ausdruck, den sie hätten, wenn sie wüßten, wie mein Leben ist und wer ich bin, und ließen meine Gesten und mein Gesicht meine schüchterne, lächerlich anormale Seele durchscheinen. In Augen, die mich nicht sehen, vermute ich Spötteleien, die ich als selbstverständlich betrachte, Spötteleien, die jener unfeinen Ausnahme gelten, die ich unter handelnden und sich erfreuenden Menschen darstelle; und aus den vorübergehenden Physiognomien scheint mir laut das unterstellte oder hineingedeutete Bewußtsein entgegenzulachen, das ich selbst von meinem unbeholfen gestikulierenden Leben habe. Nach diesen Gedanken versuche ich mir vergeblich einzureden, daß der Spott und die milde Anklage, die ich empfinde, allein von mir ausgehen. Hat sich aber das Bild meiner Lächerlichkeit erst einmal in den anderen verfestigt, kann ich nicht mehr behaupten, nur ich hätte dieses Bild von mir. Mit einem Mal habe ich das Gefühl, in einem Treibhaus aus Spott und Feindseligkeit ins Schwanken zu kommen und zu ersticken. Alle deuten aus der Tiefe ihrer Seele mit dem Finger auf mich. Alle, die an mir vorübergehen, steinigen mich mit heiter verächtlichem Gespött. Ich bewege mich unter feindseligen Gespenstern, erdacht von meiner krankhaften Phantasie und projiziert auf wirkliche Menschen. Alles ohrfeigt und verhöhnt mich. Manchmal, mitten auf der Straße – wo endlich niemand von mir Notiz nimmt –, bleibe ich unvermittelt stehen, zögere, suche nach einer neuen Dimension, einer Tür zum Inneren des Raumes, zu seiner anderen Seite, wo ich meinem Bewußtsein von anderen Menschen sofort entkommen könnte, meiner überobjektivierten Ahnung der Wirklichkeit fremder, lebendiger Seelen.
    Sollte meine Gewohnheit, mich in die Seelen anderer hineinzuversetzen, mich dazu bringen, mich so zu sehen, wie andere mich sehen oder sähen, nähmen sie mich denn wahr? Gewiß. Und habe ich erst einmal begriffen, wie sie mir gegenüber empfänden, wenn sie mich kennten, ist es, als empfänden sie dies mir gegenüber wirklich und zeigten es auch in diesem Augenblick. Mit anderen zusammenzuleben ist eine Qual für mich. Und ich trage diese anderen in mir. Selbst fern von ihnen bin ich gezwungen, mit ihnen zusammenzuleben. Selbst allein umzingeln mich Menschenmassen. Und kein Entfliehen, es sei denn die Flucht vor mir selbst.
    Ihr hohen Berge in der Dämmerung, ihr fast engen Straßen im Mondlicht, hätte ich doch eure Unbewußtheit […], eure rein stoffliche Geistigkeit ohne Urteilsvermögen, ohne Sensibilität, ohne Platz für Gefühle oder Gedanken oder geistige Unruhe! Ihr Bäume, die ihr nur Bäume seid, mit eurem dem Auge so angenehmen Grün, steht ihr so außerhalb meiner Sorgen und Nöte, seid so tröstlich für meine Ängste, da euch die Augen fehlen, sie zu sehen, und die Seele, die, durch diese Augen sehend, diese Ängste mißverstehen und deshalb verspotten könnte! Ihr Steine im Weg, gefällte Bäume, bloße namenlose Erde des Bodens von überall, mir verschwistert, da euer mangelndes Empfinden für meine Seele zärtlich und erholsam ist … In der Sonne oder unter dem Mond meiner Mutter Erde, so innig meine Mutter, siehst du mich doch weniger kritisch als meine menschliche Mutter, da dir die Seele fehlt, die mich unwillkürlich analysierte, und der schnelle Blick, der Gedanken zu meiner Person verriete, die du dir selbst nie eingestündest. Unermeßlicher Ozean, mein lärmender Kindheitsgefährte, du, der du mich beruhigst und einwiegst, weil deine Stimme nicht menschlich ist und daher nie menschlichen Ohren meine Schwächen und Unzulänglichkeiten zuraunen kann. Weiter Himmel, blauer Himmel, Himmel nahe dem Geheimnis der Engel [?], du betrachtest mich nicht aus trügerisch grünen Augen, um mich zu locken, und [krönst] [79]   du dich mit Sternen, dann nicht, um dich über mich zu erheben … Allumfassender Friede der Natur, mütterlich, da sie nichts von mir weiß; ferne Ruhe der Atome und Systeme, so brüderlich in deiner völligen Unkenntnis von mir … Ich möchte zu eurer Weite beten und eurer Stille, als Zeichen meiner Dankbarkeit, daß euer

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