Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
eine Laune fremder Gleichgültigkeit.
Klar sehen in uns und erkennen, wie die anderen uns sehen! Dieser Wahrheit ins Auge sehen! Und am Ende der Schrei Christi am Kreuz, als er seiner Wahrheit ins Auge sah: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
Éducation sentimentale
Wer aus dem Traum das Leben machen will und aus seinen wie Treibhauspflanzen kultivierten Empfindungen eine Religion und eine Politik, für den ist der erste erfolgreiche Schritt in diese Richtung getan, wenn er in seiner Seele nichtige Dinge als außergewöhnlich und überragend empfindet. Dieser erste Schritt aber ist nicht mehr als der erste Schritt. Aus einer Tasse Tee jene höchste Wonne ziehen können, wie ein gewöhnlicher Mensch sie nur in Augenblicken großer Freude empfinden kann, wenn sein Bestreben plötzlich Erfüllung findet, seine Sehnsucht plötzlich verflogen ist oder er im Liebesakt zum Höhepunkt gelangt; beim Anblick eines Sonnenunterganges oder dem Betrachten eines schmückenden Details so intensiv wahrnehmen, wie wir es im allgemeinen nicht durch Sehen oder Hören vermögen, sondern allein durch Riechen oder Schmecken – durch jene Nähe zum Objekt der Wahrnehmung, wie sie allein der körperliche Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn in unserem Bewußtsein herzustellen vermag; unseren inneren Blick, das Gehör unserer Träume – alle vorgestellten und vorstellbaren Sinne – empfänglich und greifbar machen können, wie nach außen gerichtete Sinne: dies sind einige der Wahrnehmungen (und ähnliche sind vorstellbar), die der geschulte Kultivator eigener Wahrnehmungen auf den Höhepunkt treiben kann, damit sie eine konkrete, annähernd genaue Vorstellung davon vermitteln, was ich darzulegen suche.
Das Erreichen dieser Stufe des Wahrnehmens ist für den Liebhaber von Wahrnehmungen mit einer physischen Belastung verbunden, da er zwangsläufig gleich intensiv wahrnimmt, was ihm an Schmerzlichem von außen und bisweilen auch von innen aufgegeben ist. In diesen Augenblicken erkennt er, daß übermäßig intensives Wahrnehmen bisweilen nicht nur ein Übermaß an Lust, sondern auch an Leid bedeutet; und indem er dies erkennt, wird der Träumer zum zweiten Schritt des Aufstiegs zu sich selbst veranlaßt.
Ich überspringe diesen Schritt, den er tun oder lassen kann und der, je nachdem, ob er ihn tut oder läßt, diese oder jene Verhaltensweise, diese oder jene Vorgehensweise bestimmen wird, und ob er sich vollständig aus dem wirklichen Leben zurückzieht (was er nur kann, wenn er wohlhabend ist). Ich nehme an, daß man zwischen den Zeilen dessen, was ich darlege, hat lesen und verstehen können, daß der Träumer je nachdem, in welchem Maße ihm Rückzug und Beschäftigung mit sich selbst möglich sind, sich mehr oder weniger intensiv auf sein Werk konzentrieren sollte, nämlich das krankhaft gesteigerte Wachrufen seiner Wahrnehmung von Dingen und Träumen. Wer als Handelnder unter Menschen leben und mit ihnen verkehren muß – auch dann ist es immer noch möglich, den engeren Umgang mit ihnen auf ein Mindestmaß zu beschränken (denn der engere Umgang und nicht der schlichte Kontakt ist abträglich) –, wird die gesamte Berührungsfläche seines sozialen Lebens einfrieren lassen müssen, damit jede brüderliche und freundliche Geste von ihm abgleitet, nicht zu ihm vordringt und einen bleibenden Eindruck hinterläßt. Dies scheint schwer zu sein, doch dem ist nicht so. Es ist ein leichtes, die anderen auf Abstand zu halten: Es genügt, nicht auf sie zuzugehen. Wie dem auch sei, ich klammere diesen Punkt aus und kehre zurück zu dem, was ich bereits dargelegt habe.
Das bewußte unmittelbare, überdeutliche und vielschichtige Wahrnehmen einfachster, unvermeidlicher Dinge bewirkt, wie ich bereits sagte, nicht nur unmäßig lustvolles, sondern auch unliebsam leidvolles Empfinden. Daher sollte der Träumer mit seinem zweiten Schritt das Leiden tunlichst vermeiden. Nicht wie ein Stoiker oder Epikureer der ersten Stunde, indem er das Nest flieht und sich somit gleichermaßen gegen Freude wie Schmerz abhärtet. Nein, er sollte vielmehr die Freude im Schmerz suchen und sich dahin gehend erziehen, den Schmerz falsch zu empfinden, mit anderen Worten, wann immer er Schmerz empfindet, sollte er so etwas wie Freude empfinden. Zu diesem Verhalten führen verschiedene Wege. Einer ist ein Überanalysieren des Leidens, wobei wir uns zuvor geistig darauf einstimmen müssen, Freude einzig zu empfinden und nicht zu analysieren;
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