Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
sein eine Kunst und eine Moral, Träumen eine Religion.
Guedes war zweifelsohne Schöpfer eines inneren Adels, jener Seelenhaltung, die der Körperhaltung eines vollendeten Aristokraten am ehesten entspricht.
Die Not eines Mannes, der auf der Terrasse seines prächtigen Landgutes Lebensüberdruß empfindet, ist eine Sache; eine andere hingegen die Not von jemandem wie mir, der die Landschaft vom vierten Stock aus in einem Zimmer der Lissabonner Unterstadt betrachtet und nicht vergessen kann, daß er Hilfsbuchhalter ist.
»Tout notaire a rêvé des sultanes« … [92]
Wann immer ich auf einem offiziellen Dokument meinen Beruf angeben muß und, ohne daß sich jemand verwundert, Kaufmännischer Angestellter schreibe, schmunzele ich innerlich über die Ironie des unverdient Lächerlichen.
Ich weiß nicht, wie er dorthin gekommen ist, so aber steht mein Name im Handelsregister.
Der Eintrag lautet:
Guedes (Vicente), Kaufmännischer Angestellter,
Rua dos Retroseiros [93] , 17 – 4°.
Handelsregister von Portugal
II . Zwei Briefe
Pessoa trug sich mit der Absicht, Sätze und Gedanken aus den beiden folgenden Briefen in das Buch der Unruhe mit aufzunehmen .
Auszüge aus einem Brief Pessoas an seine Mutter [94] .
5. Juni 1914
Ich bin bei guter Gesundheit, und meine Stimmung ist seltsamerweise weniger schlecht. Demungeachtet quält mich eine unbestimmte Unruhe, sagen wir, eine Art intellektueller Juckreiz, als bekäme meine Seele Windpocken. Ich kann Ihnen nur in dieser absurden Sprache beschreiben, was ich fühle. All dies hat jedoch nicht wirklich annähernd mit jenen traurigen Gemütsverfassungen zu tun, von denen ich Ihnen bisweilen berichte und in denen die Traurigkeit bezeichnenderweise unbegründet ist. Meine gegenwärtige Gemütsverfassung aber hat einen Grund. Alles um mich herum entfernt sich und bricht auseinander. Ich gebrauche diese beiden Verben nicht etwa in düsterer Absicht. Ich möchte damit nur sagen, daß die Menschen, mit denen ich zu tun habe, Veränderungen erleben oder erleben werden, das Ende eines Lebensabschnittes, und daß all dies bei mir – wie bei einem alten Mann, der die Gefährten seiner Kindheit um sich herum sterben sieht und seine Zeit gekommen fühlt – auf ich weiß nicht welch geheimnisvolle Weise den Eindruck entstehen läßt, daß sich auch mein Leben verändern muß und wird. Ich glaube wohlgemerkt nicht, daß dies eine Veränderung zum Schlechten sein wird, im Gegenteil. Aber es ist eine Veränderung, und jede Veränderung, jeder Wechsel von einer Sache zur anderen, ist für mich ein partieller Tod; etwas von uns stirbt, und die Trauer über das, was stirbt und vergeht, muß unsere Seele unweigerlich streifen.
Morgen fährt mein bester und engster Freund [95] nach Paris – nicht vorübergehend, sondern auf Dauer. Tante Anica (siehe beiliegenden Brief) wird wahrscheinlich demnächst mit ihrer bis dahin verheirateten Tochter in die Schweiz aufbrechen. Ein anderer mir nahestehender Freund wird für längere Zeit nach Galicien gehen. Ein weiterer wiederum nach Porto übersiedeln, er ist nach dem ersterwähnten Freund der mir naheste. So organisiert (oder desorganisiert) sich in meiner menschlichen Umgebung alles in einer Weise, die mich womöglich in die Isolation treibt oder aber mir einen neuen Weg aufzeigt, den ich noch nicht sehe. Selbst der Umstand, daß ich demnächst ein Buch veröffentliche, wird mein Leben verändern. Ich verliere etwas: das Unveröffentlichtsein. Und da jede Veränderung schlecht ist, bedeutet selbst eine Veränderung zum Guten stets eine Veränderung zum Schlechten. Selbst der Verlust einer negativen Eigenschaft wie eines Fehlers, einer Schwäche oder Unzulänglichkeit bleibt doch immer ein Verlust. Und nun, Mama, stellen Sie sich die schmerzlichen Empfindungen eines Wesens vor, das Tag für Tag so fühlt!
Was wird mit mir in zehn Jahren sein oder selbst in fünf? Meine Freunde sagen, aus mir werde einer der größten zeitgenössischen Dichter, sie haben dabei vor Augen, was ich bereits geschrieben habe, und nicht, was ich schreiben könnte (andernfalls zitierte ich sie nicht …). Aber weiß ich denn, was dies, selbst wenn es einträte, bedeutet? Weiß ich denn, wonach es schmeckt ? Vielleicht schmeckt Ruhm nach Tod und Nichtigkeit und riecht Triumph nach Fäulnis.
Brief an Mário de Sá-Carneiro
14. März 1916
Ich schreibe Ihnen heute, weil mein Gefühl nicht anders kann – ich habe das schmerzliche
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