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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Zenith , Fernando Pessoa
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einem Unterschied von vier oder fünf Metern – der Entfernung zwischen dem Arbeitsplatz des einen in der Küche zu dem Arbeitsplatz des anderen im äußeren Bereich des Restaurants. Im übrigen hat er nur zwei Kinder, reist häufiger nach Galicien, hat schon mehr von Lissabon gesehen als der andere und kennt die Stadt Porto, wo er vier Jahre verbrachte, und ist gleichfalls glücklich.
    Bestürzt und bang betrachte ich das Panorama dieser Lebensläufe, und während sie Entsetzen, Mitgefühl und Revolte in mir auslösen, entdecke ich, daß diejenigen, die weder Entsetzen noch Mitgefühl noch Revolte verspüren, ein Anrecht darauf hätten, sie zu verspüren, da genau sie diese Lebensläufe leben. Das ist der zentrale Irrtum der literarischen Phantasie: zu vermuten, daß die anderen wir sind und daß sie wie wir fühlen müssen. Aber zum Glück für die Menschheit ist jeder Mensch nur der, der er ist, und nur dem Genie ist es gegeben, außerdem noch ein paar andere Menschen zu sein.
    Letztlich wird uns alles entsprechend den Gegebenheiten zugeteilt. Ein kleiner Zwischenfall auf der Straße, der den Koch meines Restaurants an die Tür ruft, unterhält ihn mehr als mich die Betrachtung des originellsten Gedankens, die Lektüre des besten Buches, der willkommenste nutzlose Traum. Und wenn das Leben im wesentlichen Eintönigkeit ist, so ist es eine Tatsache, daß er der Eintönigkeit eher entronnen ist als ich. Und dazu noch leichter. Die Wahrheit liegt nicht bei ihm und nicht bei mir, weil sie bei niemandem liegt; aber das Glück ist wirklich bei ihm zu finden.
    Weise ist, wer seine Existenz eintönig gestaltet, dann nämlich besitzt jeder kleine Zwischenfall das Privileg eines Wunders. Der Löwenjäger erlebt kein Abenteuer über den dritten Löwen hinaus. Für meinen eintönigen Koch hat eine Ohrfeigenszene auf der Straße immer noch etwas von einer bescheidenen Apokalypse. Wer nie aus Lissabon herausgekommen ist, fährt mit der Straßenbahn in den Vorort Benfica, schier in die Unendlichkeit, und wenn er eines Tages nach Sintra fährt, meint er, er sei bis zum Mars gereist. Der Reisende, der die ganze Erde durcheilt hat, findet nach 5000 Meilen nichts Neues mehr, denn er kann nur neue Dinge finden; Neues und wieder Neues, Altes im ewig Neuen, denn der abstrakte Begriff der Neuheit ist schon bei der nächsten Neuheit im Meer zurückgeblieben.
    Ein Mensch kann, wenn er denn wirklich weise ist, das gesamte Schauspiel der Welt von einem Stuhl aus genießen, ohne lesen zu können, ohne mit jemandem zu reden, nur seine Sinne gebrauchend und mit einer Seele begabt, die nicht traurig zu sein versteht.
    Man sollte die Existenz eintönig gestalten, damit sie nicht eintönig wird. Den Alltag beruhigen, damit auch die kleinste Einzelheit eine Zerstreuung mit sich bringt. Mitten in meiner dumpfen, gleichförmigen, nutzlosen Tagesarbeit steigen in mir Fluchtvisionen auf, erträumte Spuren ferner Inseln, Feste auf Parkalleen anderer Epochen, andere Landschaften, andere Gefühle, ein anderes Ich. Aber zwischen zwei Eintragungen sehe ich ein, daß nichts davon, wenn ich dies alles besäße, mir gehörte. In Wahrheit ist Chef Vasques mehr wert als die Könige des Traumes; in Wahrheit ist das Büro in der Rua dos Douradores mehr wert als die großen Alleen unmöglicher Parks. Wenn ich Herrn Vasques zum Vorgesetzten habe, kann ich den Traum der Könige des Traumes genießen; wenn ich das Büro in der Rua dos Douradores habe, kann ich den inneren Anblick von Landschaften genießen, die nicht existieren. Wenn ich aber die Könige des Traums besäße, was bliebe mir dann zu träumen übrig? Wenn ich die unmöglichen Landschaften besäße, was bliebe mir dann an Unmöglichem übrig?
    Die Eintönigkeit, die dumpfe Gleichheit der Tage, die völlige Unterschiedslosigkeit zwischen gestern und heute – sie mögen mir für immer bleiben und dazu die wache Seele, um mich mit der Fliege zu unterhalten, die zufällig an meinen Augen vorbeisurrt, das Gelächter auszukosten, das unbeständig von der ungewissen Straße emporsteigt, und die ungeheure Befreiung, daß es Zeit wird, das Büro zu schließen, die unendliche Erholung eines Feiertages.
    Ich kann mir vorstellen, alles zu sein, weil ich nichts bin. Wäre ich etwas, könnte ich mir das nicht vorstellen. Der Hilfsbuchhalter kann träumen, er sei Kaiser des Römischen Reiches; der König von England kann das nicht, weil es dem König von England genommen ist, in Träumen ein anderer König zu

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