Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
reduziert hatte; ihre wissenschaftliche Kritik deckte Schritt um Schritt die Irrtümer und groben Naivitäten der ursprünglichen »Wissenschaft« der Evangelien auf; gleichzeitig riß die Diskussionsfreiheit, die alle metaphysischen Probleme zur Debatte stellte, die religiösen Probleme mit sich fort, soweit sie metaphysischer Natur waren. Trunken von einer ungewissen Sache, die sie »Positivismus« nannten, kritisierten diese Generationen die gesamte Moral, durchstöberten alle Lebensregeln, und von diesem Zusammenstoß der Lehrmeinungen blieb nur die Ungewißheit aller zurück und der Schmerz darüber, daß es keine Gewißheit gab. Eine solcherart in ihren Grundlagen erschütterte Gesellschaft konnte konsequenterweise auch in der Politik nur ein Opfer dieser Disziplinlosigkeit werden; und so erwachten wir für eine Welt, die gierig war nach gesellschaftlichen Neuerungen, mit Freude machte man sich an die Eroberung einer Freiheit, von der man nicht wußte, was sie war, und eines nie genau definierten Fortschritts.
Doch der grobschlächtige Kritizismus unserer Eltern machte es uns zwar unmöglich, Christen zu sein, glücklich aber waren wir darüber nicht; er ließ uns zwar an den überlieferten moralischen Formeln zweifeln, nicht aber gleichgültig sein gegen die Moral und die Regeln menschlichen Zusammenlebens; er ließ zwar das politische Problem in der Schwebe, nicht aber unseren Geist gleichgültig gegenüber einer Lösung dieses Problems. Unsere Eltern zerstörten unbekümmert, da sie einer Epoche angehörten, die noch Spuren einer soliden Vergangenheit aufwies. Sie zerstörten genau das, was der Gesellschaft jene Kraft verlieh, die ihnen erlaubte, sie zu zerstören, ohne die Risse am Gebäude zu bemerken. Wir haben die Zerstörung und ihre Resultate geerbt.
Im heutigen Leben gehört die Welt einzig den Dummen, den Selbstgefälligen und den Umtriebigen. Das Recht, zu leben und zu triumphieren, erwirbt man heute mehr oder minder mit den gleichen Mitteln, mit denen man die Einweisung in ein Irrenhaus erreicht: die Unfähigkeit zu denken, die Unmoral und die Übererregtheit.
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Die Herberge zur Vernunft
Auf halbem Wege zwischen Glaube und Kritik liegt die Herberge zur Vernunft. Die Vernunft ist der Glaube an etwas, das man ohne Glauben verstehen kann; doch bleibt es noch immer ein Glaube, denn verstehen setzt voraus, daß es etwas Verstehbares gibt.
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Metaphysische Theorien, die uns für einen Augenblick die Illusion vermitteln, wir hätten das Unerklärliche erklärt; moralische Theorien, die uns für eine Stunde mit der Überzeugung täuschen können, wir wüßten endlich, welche aller geschlossenen Türen zur Tugend führt; politische Theorien, die uns für einen Tag glauben machen, wir hätten ein Problem gelöst, obgleich es für kein Problem eine Lösung gibt, es sei denn in der Mathematik … Fassen wir also unsere Haltung dem Leben gegenüber in diesem bewußt fruchtlosen Handeln zusammen, in diesem Bemühen, das, wenn auch wenig erquicklich, uns doch zumindest davor bewahrt, die Gegenwart des Schmerzes wahrzunehmen.
Nichts kennzeichnet den Höhepunkt einer Zivilisation besser als die Erkenntnis ihrer Mitglieder von der Fruchtlosigkeit aller Anstrengung, denn Gesetze lenken uns, und nichts kann sie abschaffen noch verhindern. Vielleicht sind wir Sklaven, gefesselt an die Götter, die stärker sind als wir, aber nicht besser, und wie wir der Regentschaft eines abstrakten Schicksals unterworfen, erhaben über Güte und Gerechtigkeit und gleichgültig gegenüber Gut und Böse.
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Wir sind Tod. Was wir als Leben ansehen, ist der Schlaf des wirklichen Lebens, der Tod dessen, was wir wirklich sind. Die Toten werden geboren, sie sterben nicht. Die Welten sind für uns vertauscht. Wenn wir zu leben meinen, sind wir tot; wenn wir sterben, beginnen wir zu leben.
Die Beziehung zwischen Schlaf und Leben ist die gleiche wie zwischen dem, was wir als Leben, und dem, was wir als Tod bezeichnen. Wir schlafen, und dieses Leben ist ein Traum, nicht im metaphorischen oder poetischen, sondern im tatsächlichen Sinn.
Alles, was wir zu unseren höheren Tätigkeiten zählen, all das hat Anteil am Tod, all das ist Tod. Was anderes ist ein Ideal als das Eingeständnis der Wertlosigkeit des Lebens? Was anderes ist Kunst als die Verneinung des Lebens? Eine Statue ist ein toter Körper, geschaffen, um den Tod in einem unvergänglichen Stoff festzuhalten. Die Lust, die wie ein Eintauchen ins Leben auf uns wirkt, ist
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