Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Gott, werden wir auf dem Gefängnishof jene wenigen Augenblicke der Verzückung erleben, die uns die Unachtsamkeit unserer Henker zugesteht. Morgen dann die Guillotine. Wenn nicht morgen, dann übermorgen. Führen wir also in der Sonne unsere Ruhe spazieren vor dem Ende, vergessen wir freiwillig alle Ziele und Zwecke. Die Sonne wird unsere glatten Stirnen vergolden, und der Wind wird frisch wehen für den, der die Hoffnung aufgibt.
Ich werfe meinen Federhalter auf den Schreibtisch, er rollt ungehindert über die Schräge zurück, an der ich arbeite.
Ich fühlte dies alles mit einem Mal. Und meine Freude äußert sich in dieser Geste des Zorns, den ich nicht empfinde.
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Notizen zu einer Lebensregel
Es nötig haben, andere zu beherrschen, heißt andere nötig haben. Der Vorgesetzte ist ein Abhängiger.
Seine Persönlichkeit erweitern, ohne ihr etwas Fremdes hinzuzufügen – weder von anderen etwas erbitten noch anderen befehlen, aber die anderen sein , wenn man andere braucht.
Unsere Bedürfnisse auf ein Minimum herabsetzen, damit wir in nichts von anderen abhängen.
Absolut ist dieses Leben gewiß unmöglich. Relativ jedoch ist es das nicht.
Nehmen wir den Prinzipal eines Büros. Er sollte in der Lage sein, ohne andere auszukommen; er sollte auf der Schreibmaschine schreiben, seine Buchführung erledigen und das Büro kehren können. Daher sollte er von anderen nur aus zeitersparenden Gründen abhängen und nicht aus mangelnder Kompetenz. Er sollte dem Lehrling sagen: »Bring diesen Brief zur Post«, da er mit einem Gang zur Post nicht unnütz Zeit vertun will und nicht etwa, weil er nicht weiß, wo das Postamt ist. Und zu einem Angestellten sollte er sagen: »Gehen Sie da und da hin und erledigen diese Angelegenheit«, weil er mit ihrer Erledigung selbst keine Zeit verlieren will und nicht, weil er nicht weiß, wie man dies tut.
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Tugend kennt keinen gerechten Lohn und Sünde keine gerechte Strafe. Lohn oder Strafe wären im übrigen gleichermaßen ungerecht. Tugend wie Sünde sind unvermeidliche Äußerungen unserer Organismen, die, zum einen oder anderen verdammt, die Strafe verbüßen, gut oder schlecht zu sein. Daher versetzen alle Religionen Lohn und Strafe für die, die nichts sind noch etwas können und daher nichts verdienen können, in andere Welten, von denen keine Wissenschaft uns Kenntnis und kein Glaube uns ein Bild vermitteln kann.
Sagen wir uns also los von allem aufrichtigen Glauben, verzichten wir auf alles Bemühen um Einflußnahme.
Das Leben, sagte Tarde [43] , ist die Suche nach dem Unmöglichen vermittels des Unnützen. Wir sollten stets das Unmögliche suchen, denn dies ist unser Geschick; wir sollten es mit Hilfe des Unnützen suchen, denn kein Weg führt daran vorbei; wir sollten uns zu dem Bewußtsein aufschwingen, daß wir nichts suchen, was wir finden könnten, und daß nichts auf unserem Weg eine Zärtlichkeit oder wehmütige Erinnerung verdient.
Wir werden aller Dinge müde, nur des Verstehens nicht, sagte der Scholiast. Laßt uns also verstehen, immerzu verstehen, und aus diesem Verstehen versuchen, findig Blumengewinde und Kränze zu flechten, die früher oder später doch verwelken, Spektralblumen unseres Verständnisses.
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Wir werden aller Dinge müde, nur des Verstehens nicht. Der Sinn dieses Satzes ist mitunter schwer zu fassen.
Wir werden des folgernden Denkens müde, denn je mehr wir denken, analysieren, unterscheiden, desto weniger kommen wir zu einer Schlußfolgerung.
Wir verfallen dann in jenen Zustand der Trägheit, in dem wir nur noch verstehen wollen, was dargelegt wurde – eine ästhetische Haltung, denn wir wollen verstehen, ohne uns zu interessieren, ohne uns darum zu kümmern, ob das Verstandene wahr ist oder nicht; ohne in dem Verstandenen mehr zu sehen als die exakte Form seiner Darlegung, den Stellenwert der rationalen Schönheit nämlich, den es für uns hat.
Wir werden des Denkens müde, der eigenen Meinungen, des Denken-Wollens um des Handelns willen. Jedoch werden wir es nicht müde, wenn auch nur zeitweilig, fremde Meinungen zu haben, nur um ihren Einfluß zu spüren und nicht etwa, um ihrem Impuls nachzugeben.
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Die ganze Nacht, Stunde um Stunde, rauschte der Regen nieder. Die ganze Nacht schlug seine kalte Monotonie in meinem Halbschlaf gegen die Scheiben. Bald peitschte eine Windböe hoch durch die Luft, und das Wasser glitt in klingenden Wellen und mit flinken Händen über die Scheiben; bald ließ nur ein dumpfer
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