Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
gibt Wortrhythmen, die tanzen, in denen sich der Gedanke schlängelnd entblößt – in durchscheinender, vollkommener Sinnlichkeit. Und desgleichen theatralische Subtilitäten, in denen ein großer Schauspieler das WORT, rhythmisch das unfaßbare Mysterium des Universums, in seine eigene körperliche Substanz verwandelt.
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Alles hat miteinander zu tun. Die Lektüre der Klassiker, die nie von Sonnenuntergängen sprechen, hat mir viele Sonnenuntergänge verständlich gemacht, in all ihren Farben. Es besteht eine Beziehung zwischen der syntaktischen Kompetenz, mit deren Hilfe wir die Werte von Wesen, Klängen und Formen unterscheiden, und der Fähigkeit, zu erkennen, wann das Blau des Himmels tatsächlich grün und wieviel Gelb im Blaugrün des Himmels ist.
Die Fähigkeit, zu unterscheiden, und die Fähigkeit, »in die Feinheiten zu gehen«, ist im Grunde ein und dasselbe. Ohne Syntax ist keine Emotion von Dauer. Die Unsterblichkeit ist Sache der Grammatiker.
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Lesen heißt durch fremde Hand träumen. Flüchtig lesen heißt uns von der Hand befreien, die uns führt. Oberflächliche Bildung ist die beste Voraussetzung für ein gutes Lesen und Tiefgang.
Wie schäbig und hinterhältig das Leben doch ist! Bedenke, damit es schäbig und hinterhältig ist, reicht es, daß es dir gegen deinen Willen gegeben wird, daß es in nichts von deinem Willen abhängt, ja, nicht einmal von der Illusion deines Willens.
Sterben heißt ein vollkommen Anderer werden. Deshalb ist jeder Freitod feige; durch ihn liefern wir uns dem Leben ganz und gar aus.
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Kunst ist ein sich allem Handeln oder Leben Entziehen. Kunst ist der intellektuelle Ausdruck von Emotion, die wiederum willentlicher Ausdruck des Lebens ist. Was wir nicht haben, nicht wagen oder nicht erreichen, ermöglicht uns der Traum, und mit diesem Traum schaffen wir Kunst. Bisweilen ist die Emotion – wenngleich auf das Handeln beschränkt – so heftig, daß dieses Handeln sie nicht zufriedenstellen kann; mit diesem Zuviel an Emotion, das im Leben keinen Ausdruck gefunden hat, wird das Kunstwerk geschaffen. Somit gibt es zwei Arten von Künstlern: den Künstler, der dem Ausdruck verleiht, was er nicht hat, und den Künstler, der dem Ausdruck verleiht, was er zuviel gehabt hat.
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Etwas schreiben und es anschließend als schlecht erkennen ist eine der großen seelischen Tragödien. Und sie ist besonders groß, wenn man einsehen muß, daß dieses Werk das bestmögliche ist. Doch wenn man sich an ein Werk macht, im voraus wissend, daß es fehlerhaft und verfehlt sein wird, und beim Schreiben selbst sieht, daß dem auch so ist, so stellt dies den Gipfel geistiger Qual und Erniedrigung dar. Ich empfinde nicht nur die Verse, die ich augenblicklich schreibe, als nicht zufriedenstellend, sondern ich weiß auch, daß meine künftigen Verse mich ebensowenig zufriedenstellen werden. Dies verdanke ich einem philosophischen wie körperlichen Wissen, einer dunklen, gladiolengeschmückten Einsicht.
Warum also schreibe ich? Weil ich, der Prediger des Verzichts, noch nicht gelernt habe, ihn voll und ganz zu üben. Ich habe noch nicht gelernt, meiner Neigung zu Vers und Prosa zu entsagen. Ich muß schreiben, als müßte ich eine Strafe verbüßen. Und meine größte Strafe besteht im Wissen, daß, was immer ich schreibe, nichtig, verfehlt und ungewiß sein wird.
Bereits als Kind habe ich Verse geschrieben. Und so schlecht sie auch waren, ich hielt sie für vollkommen. Nie wieder werde ich das trügerische Vergnügen erleben, ein vollkommenes Werk zu schaffen. Was ich heute schreibe, ist weitaus besser. Es ist sogar besser, als manch einer der Besten schreiben könnte. Und doch bleibt es unendlich weit hinter dem zurück, was ich, nicht wissend warum, fühle, daß ich es schreiben könnte oder meinethalben auch sollte. Ich weine über meine schlechten Kindheitsverse wie über ein totes Kind, einen toten Sohn oder eine letzte entschwundene Hoffnung.
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Je weiter wir fortschreiten im Leben, um so überzeugter werden wir von zwei, wenngleich widersprüchlichen, Wahrheiten. Die erste ist, daß angesichts der Wirklichkeit des Lebens alle Erfindungen von Kunst und Literatur blaß wirken. Sie bereiten uns zweifelsohne ein nobleres Vergnügen als die Vergnügen des Lebens, sind aber wie Träume, die uns Gefühle bescheren, die man im Leben nicht fühlt, und die Formen zusammenfinden lassen, die im Leben nie zusammenkommen; alles in allem Träume, die, erwacht man aus ihnen, weder
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