Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Erinnerungen noch Sehnsüchte hinterlassen, mit denen wir ein zweites Leben leben könnten.
Und die zweite Wahrheit ist: Da jede edle Seele das Leben als Ganzes erfahren möchte, mit all seinen Dingen, all seinen Orten und lebendigen Gefühlen, dies aber objektiv unmöglich ist, kann das Leben nur subjektiv erfahren werden und nur in der Verneinung in seiner Ganzheit gelebt werden.
Diese beiden Wahrheiten schließen einander aus. Wer klug ist, wird darauf verzichten, sie miteinander vereinbaren zu wollen, ebenso wie die eine oder andere zu verwerfen. Dennoch wird er der einen oder anderen folgen müssen und sich nach der sehnen, der er nicht folgt; oder aber beide verwerfen, indem er sich über sich selbst in ein eigenes Nirwana erhebt.
Glücklich, wer vom Leben nicht mehr verlangt, als es ihm aus freien Stücken gibt, und sich vom Instinkt der Katzen leiten läßt, die Sonne suchen, wenn Sonne scheint, und wenn sie nicht scheint die Wärme, wo auch immer sie zu finden ist. Glücklich, wer auf seine Persönlichkeit zugunsten der Vorstellungskraft verzichtet, sich am Betrachten fremder Leben erfreut und, wenn auch nicht alle Eindrücke, so doch das äußere Schauspiel der Eindrücke anderer erlebt. Glücklich, zu guter Letzt, wer auf alles verzichtet und wer, da er auf alles verzichtet hat, um nichts beschnitten oder gebracht werden kann.
Der Bauer, der Romanleser, der reine Asket – diese drei kennen das Glück des Lebens, denn alle drei verzichten auf ihre Persönlichkeit – der eine, weil er instinkthaft lebt und somit unpersönlich, der andere, weil er in der Vorstellungswelt lebt und somit im Vergessen, der dritte, weil er nicht lebt und, da er nicht tot ist, schläft.
Nichts genügt mir, nichts tröstet mich, ich bin alles – ob es war oder nicht – satt. Ich will keine Seele und will nicht auf sie verzichten. Ich möchte, was ich nicht möchte, und verzichte auf das, was ich nicht habe. Ich kann weder nichts noch alles sein: Ich bin die Brücke zwischen dem, was ich nicht habe, und dem, was ich nicht will.
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… die feierliche Traurigkeit, die allem Großen innewohnt – hohen Bergen wie bedeutenden Leben, tiefen Nächten wie unsterblichen Gedichten.
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Haben wir nur geliebt, dürfen wir sterben.
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Ich wurde nur einmal wahrhaft geliebt. Freundlichkeit fand ich immer, bei allen Menschen. Selbst solche, die ich nur flüchtig kannte, zeigten sich mir gegenüber selten grob, abweisend oder gar kalt. Und so manche der Freundlichkeiten hätte ich – vielleicht – mit etwas Zutun in Liebe oder Zuneigung verwandeln können. Doch brachte ich nie die Geduld oder geistige Aufmerksamkeit auf, um überhaupt eine solche Anstrengung unternehmen zu wollen.
Zunächst glaubte ich – so wenig kennen wir uns selbst –, Schüchternheit sei der Grund für meine seelische Passivität. Doch dann entdeckte ich, daß vielmehr ein emotionaler Überdruß ausschlaggebend war, der anders ist als der Lebensüberdruß, mir fehlte die Geduld, mich auf ein kontinuierliches Gefühl einzulassen, insbesondere wenn dies beständig Anstrengung verlangte. »Wozu?« dachte in mir, was nicht denkt. Ich besitze genügend Scharfsinn und ausreichend psychologisches Taktgefühl, um das »Wie« zu kennen; das »Wie des Wie« hingegen hat sich mir nie entschlüsselt. Der Grund für meine Willensschwäche lag stets in der mangelnden Kraft meines Willens, zu wollen. So erging es mir mit meinen Emotionen, mit meinem Intellekt, mit meinem Willen selbst und mit allem, was das Leben ausmacht.
Dieses eine Mal jedoch, als eine boshafte Gelegenheit mich glauben machte, daß ich liebte, und ich feststellte, daß meine Liebe wirklich erwidert wurde, reagierte ich zunächst benommen und verwirrt, als sei mir das große Los zugefallen – in einer nicht konvertiblen Währung. Dann überkam mich, denn kein menschliches Wesen ist gegen sie gefeit, eine leichte Eitelkeit; doch so natürlich diese Gefühlsregung auch erscheinen mag, sie verflog rasch. Ein unangenehmes, schwer zu bestimmendes Gefühl stellte sich ein, verbunden mit Überdruß, Erniedrigung und Müdigkeit.
Überdruß, als hätte das Schicksal mir eine Aufgabe zugedacht, befremdliche Überstunden. Überdruß, als hätte man mir eine neue Verpflichtung aufgebürdet – die zur schrecklichen Gegenseitigkeit – und ironisch als Privileg bemäntelt, für das ich dem Schicksal zu meinem Ärger auch noch dankbar sein müßte. Überdruß, als genügte die haltlose Monotonie des
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